Die Wissenslücke wird größer

Vor zehn Jahren forderte die UNO eine weltweite Grundbildung für alle Kinder bis 2000. Die Hilfsorganisation Oxfam zeigt: Das Ziel scheitert, weil der Schuldendienst die Bildungsetats auffrißt  ■ Von Thomas Ruttig

Bildung, Bildung, Bildung“ lautet ein Slogan, mit dem Tony Blairs New Labour den kränkelnden Wirtschaftsstandort Großbritannien auf Vordermann bringen will. Die Weltbank erklärte im vorigen Jahr die „Wissenslücke zwischen Arm und Reich“ zum Gegenstand ihrer neuesten Kampagne. Ihr Präsident James Wolfensohn träumte öffentlich auf einer Pressekonferenz davon, in Drittweltdörfern Computerzentren einzurichten, in denen Kinder lernen und Bauern sich Rat gegen Viehkrankheiten aus dem Internet herunterladen können. Doch der Traum von Bildung für alle ist älter, mindestens zehn Jahre: Damals stellten sich die Vereinten Nationen auf einer Konferenz in Jomtien (Thailand) das große Ziel: „Bildung für alle bis zum Jahr 2000.“ Damit, das läßt sich bereits heute absehen, wird es nichts werden. Während die UNO intern noch dabei ist, den Fehlschlag schönzureden, spricht ein Report der renommierten britischen Hilfsorganisation Oxfam Klartext: „Ein verlorenes Jahrzehnt“ für die Weltbildung.

Derzeit leben in den Entwicklungsländern 125 Millionen Kinder, die nie eine Schule von innen sehen werden, so steht in dem Bericht, zwei Drittel von ihnen sind Mädchen – die Bildungsmisere hat ein weibliches Gesicht. Weitere 150 Millionen Kinder werden die Schule verlassen, bevor sie lesen und schreiben können. Heute ist einer von vier Erwachsenen in der Dritten Welt Analphabet, insgesamt 872 Millionen Menschen. Tendenz steigend.

Die Veröffentlichung des Berichts hatte Oxfam bewußt kurz vor das sogenannte G-7-Gipfeltreffen in Köln vorvergangenes Wochenende terminiert. Dort einigten sich die Staats- und Regierungschef der sieben wichtigsten Industrieländer darauf, den ärmsten und am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern insgesamt 50 Milliarden US-Dollar Schulden zu erlassen. Ziel einer weltweiten Kampagne von regierungsunabhängigen Organisationen der auf sechs Kontinenten in 53 Ländern verankerten Bewegung „Erlaßjahr 2000“ ist es, einen Teil dieser Gelder in den sozialen Bereich der Schuldnerländer fließen zu lassen, vor allem für Grundbildung und Gesundheitsversorgung.

Auch Kevin Watkins, der Verfasser des Oxfam-Reports, stellt die Verbindung zur Schuldenfrage her. „Niemand behauptet, daß die Verschuldung die Hauptursache für die sozialen Probleme in den Entwicklungsländern sei“, sagt er. „Aber die Verschuldung ist eine moralische Frage, weil sie eine wichtige Barriere vor ihrer Lösung ist.“ Die Zahlen liegen auf der Hand. Länder wie Äthiopien, Sambia, Tansania und Honduras geben mehr für Zinsen aus, die aus Handels- und „Entwicklungshilfe“-Krediten resultieren, als sie für Bildung und Gesundheit zusammen zur Verfügung haben. Mosambik, das als eines der ersten Länder von der HIPC-Entschuldungsinitiative der G-7-Länder profitieren wird und wo schon heute 1,3 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht die Schule besuchen, hat bei dem in Köln beschlossenen Erlaßvolumen danach immer noch das Zweieinhalbfache dessen an Schuldendienst zu leisten, was im Bildungsetat für Grundbildung vorgesehen ist.

Watkins wie die Erlaßjahr-2000-Aktivisten bemängeln deshalb, daß auch in Köln wieder die destruktive Bindung der Schuldenstreichung an die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds nicht gekappt worden sind. Deren Wirkung beschreibt Friedel Hütz-Adams, politischer Koordinator des deutschen Zweigs der Kampagne: „Das bedeutet, daß Subventionen gestrichen, Staatsbetriebe geschlossen, Gebühren im Gesundheits- und im Schulwesen eingeführt werden müssen, um die Einnahmen zu steigern.“ Genau das steht Mosambik jetzt bevor. Laut Hütz-Adams „ist das das Aus für den Schulbesuch vieler Kinder armer Familien, die sich das nicht mehr leisten können“.

Über den radikaleren Entschuldungsvorschlag der Erlaßjahr-Kampagne hinaus hat Oxfam einen „Globalen Aktionsplan für Grundbildung“ vorgelegt. Autor Watkins hält es für realistisch, daß das verfehlte UNO-Ziel „Bildung für alle bis 2000“ jetzt bis 2015 erreicht werden kann. Acht Milliarden Dollar würde das kosten – die weltweiten Rüstungsausgaben von vier Tagen oder zwei Drittel der Kreditzinsen, die allein Afrika pro Jahr an die Industriestaaten zahlen muß.