Individualität oder Willkür?

Wie zuverlässig sind Zahnärzte? Eine Studie zeigt: Je mehr Fachleute ein Urteil in Sachen Zahnersatz abgeben, desto mehr Behandlungsvorschläge gibt es  ■   Von Wiebke Rögener

Wer Zahnersatz braucht – ob Krone oder Implantat, Brücke oder Vollprothese – muß nicht nur Zeit und Nerven investieren, sondern wird auch kräftig zur Kasse gebeten. 1997 summierte sich der Patientenanteil für Zahnersatz und Kieferorthopädie auf 4,7 Milliarden Mark. Da holt mancher gern die Meinung eines zweiten Zahnarztes ein, ehe er sich in den Behandlungsstuhl setzt. Doch das garantiert noch lange keine optimale und kostengünstige Therapie.

Eine kürzlich in Bonn vorgestellte Studie zeigt: Je mehr Fachleute ein Patient um ihr Urteil in Sachen Zahnersatz bittet, desto mehr – oft höchst verschiedenartige – Behandlungsvorschläge erhält er. Im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkassen und des Instituts für Angewandten Verbraucherschutz betrieben die Zahnärzte Jochen Bauer und Hans Huber Feldforschung unter ihren Kollegen. Sie wollten herausfinden, ob ein identischer Schaden an den Zähnen auch zu ähnlichen Lösungsvorschlägen seitens der Behandler und zu vergleichbaren Heil- und Kostenplänen führt.

Die Forscher schickten daher 20 Versuchspatienten aus, die in jeweils zehn Zahnarztpraxen vorstellig wurden und um eine „Zweitmeinung“ zu geplanten Sanierungsmaßnahmen im Gebiß baten. Daß es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kam, war nicht überraschend. Doch, so Bauer, „das Ausmaß der Diskrepanzen war erschreckend. In dieser Schärfe hatten wir das nicht erwartet.“ Denn die Studie kommt zu dem Schluß: Es gibt eine „große Beliebigkeit der Therapievorschläge“.

Durchschnittlich erhielt jeder Proband vier grundsätzlich verschiedene Empfehlungen. Wo der eine Zahnarzt meint, „eine Teilkrone ist denkbar“, hält der andere die Erneuerung von fünf Kronen für erforderlich und der dritte möchte einen Weisheitszahn ziehen. In einem anderen Fall wollten drei der acht Zahnärzte, die einem der Versuchspatienten Heil- und Kostenpläne erstellten, jeweils zwei Zähne überkronen – aber keineswegs die gleichen.

Drei weitere Kollegen hielten drei Zähne für therapiebedürftig, auch hier jeweils in unterschiedlicher Zusammenstellung. Je ein Plan sah die Behandlung von fünf beziehungsweise sechs Zähnen vor. Nur ein einziger Zahn taucht in allen acht Vorschlägen auf. Entsprechend schwanken die veranschlagten Kosten, in dem genannten Fall von 1.487 bis 5.562 Mark. Bei anderen Patienten variierten die Kosten sogar um bis zu 600 Prozent. Selbst bei einfachen Kronen gab es Preisunterschiede von fast 400 Prozent. Der durchschnittliche Kostenunterschied zwischen der jeweils billigsten und der teuersten Therapie betrug rund 3.600 Mark.

Für besonders besorgniserregend halten die Autoren der Studie die zutage getretenen Mängel bei der Untersuchung der Patienten. Nach entsprechender Schulung hatten die Versuchspersonen im Anschluß an jeden Zahnarztbesuch Fragebögen ausgefüllt, in denen sie die durchgeführten diagnostischen Maßnahmen, aber auch ihre subjektive Zufriedenheit dokumentierten. Die Auswertung ergab, daß die Diagnostik in mehr als drei Viertel aller Fälle unzureichend war. Bei sechs von zwanzig Versuchspersonen fand während der zehn Praxisbesuche nicht ein einziges Mal eine ausreichende Befunderhebung statt. Da wurden Röntgenaufnahmen nicht beachtet – oder aber vorgeschlagen, trotz des vom Patienten mitgebrachten Bildes gleich noch einmal zu röntgen. Auch wurde schon mal ein Zahn als Brückenpfeiler vorgeschlagen, den die Patientin gar nicht mehr besaß.

In mehr als einem Fünftel der Fälle nahm der Untersucher nur eine oberflächliche Inspektion mit dem Spiegel vor. Ein Zahnarzt überließ die klinische Untersuchung konsequenterweise gleich seiner Helferin. Ein Drittel der Zahnmediziner hielt es nicht für nötig, die Krankengeschichte zu erfragen. Nur ein Viertel überprüfte die Vitalität der Zähne, die den geplanten Zahnersatz tragen sollten. Auch Untersuchungen zum Zustand des Zahnfleisches – und damit zur Stabilität der noch vorhandenen Zähne – unterblieben in der Mehrzahl der Fälle. Gerade dies ist aber ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn es zu entscheiden gilt, ob eine geplante aufwendige Prothetik überhaupt von Dauer sein kann und damit wirtschaftlich vertretbar ist.

Eine naheliegende Erklärung für diese Mängel bei der Beratung entfällt: Die Zahnmediziner nahmen sich durchaus genügend Zeit für ihre Patienten, im Durchschnitt gut zwanzig Minuten. Die Versuchspersonen hatten daher auch meist das Gefühl, in guten Händen zu sein – 60 Prozent glaubten, sie seien gut beraten worden. Das deutet, so die Autoren, darauf hin, daß Patienten schon dann mit ihrem Zahnarzt zufrieden sind, wenn er sie nur freundlich behandelt. „Doch häufig wird da wohl mehr Marketing betrieben und nicht so sehr Diagnostik“, bemerkte Jochen Bauer bei der Vorstellung der Studie. Anne-Lore Köhne, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände folgerte aus den Ergebnissen: „Die Zahnärzte verstoßen eindeutig und eklatant gegen die geltenden Behandlungsrichtlinien.“ Es könne nicht angehen, „daß Versicherten und Patienten viel Geld dafür aus der Tasche gezogen wird, daß Zahnärzte relativ willkürliche Befunde erheben, zweifelhafte Therapievorschläge machen und unrealistische Kostenschätzungen anfertigen“. Die Verbraucherverbände wollen daher künftig bundesweit in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen ein Netz unabhängiger Patientenberatungsstellen aufbauen.

Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung versuchte dagegen, das entlarvende Ergebnis der Studie positiv zu wenden. Sie bemerkte, Patienten würden eben „nicht nach Schema F behandelt“. In den unterschiedlichen Therapievorschlägen käme „die Individualität der Behandlungssituation zum Ausdruck“. Harald Strippe, Fachgebietsleiter Zahnmedizinische Versorgung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassenverbände, konstatiert dagegen, die Ergebnisse der Studie stünden „nicht im Einklang mit dem Selbstbild der Zahnheilkunde als wissenschaftlich fundiertes, rational begründetes Fachgebiet“.