Miles and More: Essen und jammen
■ Selbst Jazzer haben vergessen, daß Jazz einmal Teil schwarzer Alltagskultur war
Seine Stimme klingt tief, kräftig und irgendwie zickig manchmal. Wenn Stanley Crouch, der Chefideologe der Neokonservativen im New Yorker Jazz, zu Podiumsgesprächen geladen wird, dann ist kalkuliert, daß er austeilt. Der Einladung zum Diskurs begegnet er mit Mitteln psychologischer Kriegsführung, und wenn seine Rhetorik ihn regelrecht in Trance versetzt, dann schlägt der korpulente Fünfziger seinem Widerredner auch schon mal mit der Faust nach. Crouch hat viel Humor, nur daß bei seinen öffentlichen Auftritten das Mitlachen meist schwer fällt.
Dieser Tage ist Stanley Crouch jedoch als Moderator für Public Radio International zu hören, das die aktuellen Hörfunkaktivitäten des New Yorker Jazz At Lincoln Center produziert.
Eingebettet in die multimediale Duke-Ellington-Offensive der mittlerweile aktivsten amerikanischen Jazzinstitution, dreht sich auch in diesem Hörspielfeature alles um jenen Jahrhundert-Hero der amerikanischen Musik. In kurzen Episoden, die in täglicher Folge vom Newarker Jazzsender WBGO (http://www.jazznetradio.com) ausgestrahlt werden, bereiten sonore Stimmen nicht nur Details aus der Ellington-Biographie auf, sondern vermitteln in witzigen und kurzweiligen Wort-Sound-Collagen auch die Unterschiede in der Wahrnehmung des Jazz zwischen gestern und hier. „Was die heute musikalisches Arrangement nennen, das war für uns, damals, way back in time, vor allem der Spaß, sich mit Freunden zu treffen, zu essen und zu jammen“, ist da zu vernehmen – was früher, also in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, zur sozialen Alltagskultur einer noch intakten Black Community gehörte, wird heute als große Kunst auf die hochkulturelle Ebene projiziert und gewartet.
Denn der Jazz hat längst keine soziale Basis mehr im schwarzen Amerika. Zum einen sind die Black Communities in vielerlei Hinsicht in einem katastrophalen Zustand, so daß jeder, der es sich irgendwie leisten kann, versucht, da wegzukommen. Die Überzahl der afroamerikanischen Jazzmusiker lebt längst schon in weiß dominierten Neighborhoods, und die schwarze Mittelschicht bemüht sich intensiv um soziokulturelle Akzeptanz, was die Verdrängung der eigenen Geschichte wie das Zurechtstutzen der Black Culture nach den Regeln abendländischer Kunsttheorie mit einschließt.
Der Versuch, einen solchen Kanon ewiggültiger Jazzkunstwerke zu schustern, wird seit einigen Jahren sehr erfolgreich am New Yorker Hochkulturtempel Lincoln Center unter Leitung des Trompeters Wynton Marsalis und seines Beraters und Mentors Stanley Crouch praktiziert. Nur daß die Sucht nach Tradition sehr viel Exklusivität verlangt und somit die im Licht der großen Kunst besehene Re-Definition des alten Jazz Novitäten und kreative Neuerungen nicht mehr zuläßt.
Der Erfolg von Jazz At Lincoln Center läßt sich auch messen: Macht und Geld. Vor wenigen Jahren erst in den Lincoln-Komplex als eigenständige Einrichtung eingegliedert, entwikkelte sie sich zügig zur finanzstärksten, aber auch umstrittensten Jazzinstitution Amerikas; der 37jährige Marsalis kontrolliert heute wesentlich die Jazzkonzertszene in New York.
Also gibt es sie doch noch, die Erfolgsstories mit schwarzem Jazz, wie sie von einem Wynton Marsalis oder einer Cassandra Wilson derzeit transportiert werden. Marsalis hat längst klar, daß er bestenfalls unter dem Erfolgsaspekt für Black People von heute attraktiv sein kann, und deshalb spricht er auch nicht mehr von Black Music, sondern von amerikanischer Musik. Wilson hingegen hat auf ihren intensiven Tourneen der letzten Jahre festgestellt, daß ein schwarzes Publikum vor allem ziemlich abstinent ist: Es ist einfach kaum da, wenn sie singt.
Diesbezüglich will sie jetzt Veränderung mobilisieren. Ihre jüngste CD, „Traveling Miles“ (Blue Note), ist ihre sehr eigenwillige Hommage an Miles Davis, den letzten großen schwarzen Image-Star des Jazz; clever produziert, instrumentiert und getextet. Die Sängerin, mittlerweile selbst schon über vierzig, ist immer noch einer der ganz raren New Stars im Jazz, die über Bühnenkompetenz und einen unverwechselbaren Sound verfügen und damit sogar richtig gut im Geschäft sind. Die Atmosphäre ihrer Songs erinnert zwar mehr an Joni Mitchell denn an irgendeine Sängerin in der Geschichte des Jazz, dennoch bleibt gerade sie tief verwurzelt in der Tradition schwarzer Musik.
Als Stanley Crouch vor zehn Jahren den großen traditionalistischen Angriff auf Miles Davis einläutete, dieser sei mit Beginn seiner Elektro-Phase Ende der sechziger Jahre zum Waldheim des Jazz mutiert, weil er den Jazz an den Popmarkt verraten habe, da war Wilson noch mit dem schwarzen Brooklyner M-Base-Kollektiv im Avant-Labor. Mittlerweile ist sie mindestens so Mainstream wie der Crouch-Zögling Marsalis, am Verkauf ihrer CDs gemessen ist sie sogar der Bestseller. Aber konzeptionell und personell gesehen hat sie ihre Underground-Erfahrung nie negiert.
Im Unterschied zu Crouch, der in den sechziger Jahren Malcolm X rief und in den Siebzigern die New Yorker Loftszene promotete, steht Wilson zu ihrer Geschichte. Einschließlich der Musik, die sie geprägt hat. Daß sie auf ihrer Davis-Hommage gerade auch Titel des Electric Miles interpretiert, gehört dahin, und daß sie den Altsaxophonisten und M-Base-Chef Steve Coleman für diese Aufnahme verpflichtete ebenso.
Auf der neuen CD der jungen schwarzen Geigerin Regina Carter, „Rhythms of the Heart“ (Verve), interpretiert Wilson nun die alte Temptations-Nummer „Papa Was a Rollin' Stone“ wie einen Abgesang auf das Machogehabe der Traditionalisten, tief, subversiv relaxt und irgendwie nuschelig fast. Christian Broecking
Jazzfreunde, uffjepaßt! In Zukunft wird unser Autor einmal im Monat an gleicher Stelle über neue, alte und zeitlose Entwicklungen im Genre kolumnieren.
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