Schlagloch

Ein Zuschauer ist nicht mehr das, was ein Zuschauer ist  ■ Von Nadja Klinger

„Da weint nicht nur Italien, sondern ein bißchen weine auch ich.“ Radprofi Jan Ullrich zum Dopingverdacht gegen Marco Pantani, „Bild“ vom 7. Juni 1999

Es gibt Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, so wie auf den Blitz der Donner folgt – laute Fragen. Nur verdienen sie kein Fragezeichen. Sie genügen sich selbst.

Die aktuellste braute sich vor genau einem Jahr zusammen. Die französische Polizei fand unter den Teilnehmern der Tour de France unerlaubte Dopingmittel. Vor drei Wochen dann geriet der Italiener Marco Pantani, der damalige Sieger des Rennens, ebenfalls unter Verdacht sowie das Team Telekom. Schließlich sagte Jan Ullrich seine Teilnahme an der diesjährigen Tour ab. Es ergab sich die Frage: Steigt er aus, weil er nicht erwischt werden will? Antwort eines Berliner Radsportfans in einer Umfrage des Rundfunks: „Wennat jemacht hat, solla sehn, detta nach Hause kommt, denn wa könn' jenauso wütend sein, wie wa jejubelt ham.“

Fangen wir bei den Blitzen an. Alle können nicht aufgezählt werden. Bereits 400 vor Christus galt der Wettkampfsport als Schule des Betrugs, ist dieser Tage aus der Zeit zu erfahren. Lange nach der Antike, da wir Eintrittskarten für Stadien kaufen, spätestens seit wir fernsehen, können wir das selbst beobachten.

Aber scheinbar ist noch niemandem aufgefallen, wie unüberwindbar hoch Hochsprunglatten liegen. Daß ein Knie fünfmal operiert und gleichzeitig überbelastet werden kann. Wie merkwürdig Turnerkörper gebaut sind. Wie unmenschlich lang und bergig die Tour de France ist.

Denn der Knopf an der Fernbedienung schaltet die Sportwelt ein und gleichzeitig im Kopf des Zuschauers sämtliche alltäglichen Sinnzusammenhänge aus. Der Sportfan paßt sich nicht nur der Sendezeit an. Er nimmt die wirklichkeitsfremde Relation von Sieg und Niederlage in Kauf sowie die imaginären, immer gleichen Antworten der Athleten in Interviews. Er verehrt seine Helden, indem er sich von ihnen die simpelsten Dinge des Lebens entwerten läßt. Leistung ist wertlos, weil es eine höhere geben wird. Nichts ist unmöglich.

Irgendein Trainer genießt grenzenloses Vertrauen, fungiert als Maß aller Dinge – für Opferbereitschaft und Selbstbewußtsein des Schützlings bis hin zur Wertschätzung des Körpers und der Weiblichkeit der jungen Athletinnen. Selbst die Liebe ist nicht mehr die, die wir kennen. Sie ist Liebe zum Sport, kommt nicht nur ohne jegliche Erotik aus, sondern ist gar endlos mit allen anderen Sportliebhabern teilbar.

Im Grunde ist nicht einmal mehr der Zuschauer das, was ein Zuschauer eigentlich ist. Er spekuliert, nur daß die Aktien sich selber bewegen, registriert als stiller Teilhaber an dem dunklen Geschäft die merkwürdige Partnerschaft der Paare auf dem Eis, nimmt arglos das vernichtende Mißtrauen der Leichtathleten hin, die sich bei den Olympischen Spielen in Barcelona, kaum durchs Ziel, gegenseitig des Dopings beschuldigten. Wer sich für Sport begeistert, begeistert sich für die Perfektion der Manipulation.

Irgendwann vernimmt der Zuschauer den Donner, wenn er die Schule des Betrugs in seiner Lieblingssportart entdeckt. An Fragen wie der nach der menschlichen Leistungsfähigkeit einerseits und dem Recht der Athleten auf den eigenen Körper andererseits kommt er nicht vorbei. Doch da sie gestellt sind, macht er den Fernseher aus, kommt heim, um an seinen unsportlichen Moralvorstellungen festzuhalten. Die Athleten, sagt er, müssen „sauber“ sein.

Nicht die Tour de France wird nie mehr das sein, was sie einmal war, lediglich der Mythos ist kaputt. Die Helden werden denen, die sie schufen, nicht mehr gerecht. Wer sie dafür verurteilt, hat sie nicht verdient, weil er ihnen selbst nie gerecht geworden ist. Sonst würde er ihnen ja zugestehen, daß dieses Radrennen „sauber“ nicht zu schaffen ist. Doch so läuft die Chose nicht. Als die Dopingfahnder im Urin von Katrin Krabbe das verbotene Clenbuterol gefunden hatten, klagte die Leichtathletin: „Durch die Berichterstattung wird soviel kaputtgemacht.“

So ist es gewesen und auch wieder nicht. Was sich nur um sich selbst dreht, kann sich nicht zerstören. Die sogenannte Berichterstattung ist auf Auferstehen und Untergehen ausgerichtet. Eine unsaubere Katrin Krabbe produziert eine saubere Heike Henkel, die so schnell wie die Dopingsünderin in Vergessenheit gerät. Schlimmer noch: Ohne Schlagzeilen wird man kaum wahrgenommen. Heldentaten, die im alltäglichen Leben nachzuvollziehen sind, wekken beim Sportpublikum kein Interesse.

Wer erzählt sich, daß Ullrich sich das Gelbe Trikot auf den letzten Kilometern der Tour de France hätte zurückholen können, wenn er nicht wiederum auf Pantanis Reifenschaden Rücksicht genommen hätte? Erinnert sich jemand an den Stabhochspringer Sergej Bubka, diesen tragischen Helden, der erst bei 5,70 Meter gelangweilt in den Kampf um olympisches Gold einstieg, den ersten Anlauf verpatzte, dann den Absprung und schließlich, weit unter seinem Leistungsvermögen, die Latte riß? Er scheiterte im Sport, wie wir es im Leben so oft tun.

Wer aber hat gepfiffen, als Rita Gerasch von ihren Schwimmkameradinnen erzählte, die die Hormonpräparate im Trainerzimmer ins Aquarium geworfen hätten, woraufhin die Fischweibchen genauso bunt geworden seien wie die Männchen? Beeinträchtigte es die allgemeine Sportbegeisterung, daß die Kugelstoßerin Heidi Krieger aus ihrer Karriere die einzig logische Konsequenz zog und fortan als Andreas Krieger weiterlebte? Kein Zuschauer kann es ernst meinen mit dem Protest gegen Manipulation im Sport, denn der brächte ihn um sein Vergnügen. Er ist derselbe Zuschauer, der einst den Kampf der Systeme am Volleyballnetz ausgetragen hat. Er war begeistert von der Milliarden-Dollar-Show der olympischen Neuzeit in Barcelona und hätte gern die Spiele 2000 in Berlin gehabt. Er ist mit der Fernbedienung eine Verbindung zu Henry Maskes Werbung für Schuppenshampoo eingegangen, zu Jan Ullrichs Kolumnen in Bild, zum Magdeburger Schwimmtrainer Henneberg, der als IM der Stasi im sportlichen Einsatz gewesen ist.

Selbst die Idee, das blutverdünnende Epo unter ärztlicher Aufsicht zuzulassen, kann über die verhängnisvolle Beziehung zwischen Fan und Athleten nicht hinwegtäuschen. Sport – das ist der Dopingkontrolleur, der unangemeldet beim Athleten klingelt und unter dem Türspion abtaucht. Der Zuschauer ist der, der Gänsehaut bekommt, wenn die olympische Flamme zündet, obwohl der Bogenschütze sie mit dem brennenden Pfeil um Meter verfehlt hat. Einst hat er sich gründlich für Katrin Krabbes Blase und Harnleiter interessiert, weil sie bei der Urinabgabe tricksen wollte. Niemals wird er ihr den moralischen Freispruch geben. Er sieht die sechsfache Olympiasiegerin Kristin Otto und meint, noch immer, das Doping aus ihrer tiefen Stimme herauszuhören. Oder er sagt sich: Die ist beim ZDF, die hat's geschafft. So oder so. Soll er also nicht behaupten, daß Jan Ullrich ihn täuschen kann.

Selbst die Liebe ist nicht mehr die, die wir kennen

Lediglich der Mythos der Tour de France ist kaputt