Nichts wegwerfen mit Art-Mama

Mit stoischer Miene in der Nudelküche: Tatsumi Orimoto setzt seine alzheimerkranke Mutter mit Altpapier und Mopedreifen in Szene. Seine Fotos und Videos sind in der Galerie Mori Ogai zu sehen  ■   Von Jenni Zylka

1956 hatte die Mutter dem damals 10jährigen Tatsumi Orimoto europäische Kunstmagazine gekauft. Wozu das geführt hat: Im Zentrum der Ausstellung des inzwischen 53jährigen Künstlers aus Kawasaki City, der in den 70ern in der Nähe der Fluxus-Szene und Nam Jun Paik arbeitete, steht seine „Art-Mama“. Kunst-Mama ist über 80 und Alzheimerpatientin, und sie und ihre Krankheit werden von ihrem Sohn auf Fotos und in Performances in Szene gesetzt. Beiläufig komisch wirken die Kompositionen, wenn der Künstler im Bild „Heavy Newspapers On My Mothers Head“ in einer japanischen Nudelküche steht, und seiner kleinen (1,34 Meter), gebeugten, grauhaarigen Mutter mit leicht schelmischem Blick Zeitungen auf den Kopf stapelt.

Dabei ist jedoch ein Phänomen zu beobachten, das sich durch alle Bilder Orimotos und seiner Mutter zieht: Die alte Dame wirkt würdevoll und bestimmt inmitten der absurden Inszenierung, keine Spur der verzweifelten Desorientierung, die die Krankheit normalerweise mit sich bringt. Mit stoischer Miene läßt sie ihren Jungen seine Idee umsetzen, schwer zu sagen, ob sie realisiert, was mit ihr passiert, ob sie es gut findet oder ob es ihr egal ist.

Auf einer dreiteiligen, sehr großformatigen Fotoreihe sitzt die alte Dame zusammen mit zwei Freundinnen an einem niedrigen Tisch auf dem Boden. Die runzeligen Frauen trinken Tee, um sie herum stapeln sich Papiere und Geschirr – ein gemütlicher Omaschnack, nur ohne Schnack, dafür mit alten Mopedreifen um den Hals. Warum die Seniorinnen nicht reden, erklärt Orimoto in einem seiner beiden Videos, die in der Galerie Mori Ogai zu sehen sind: „Die Ohren meiner Mutter sind nicht mehr gut, weil sie so viele Medikamente nehmen muß. Wenn sie sich mit ihrer Freundin trifft, sitzen sie meistens sprachlos zusammen und verständigen sich über das Gefühl.“

Die ausgedienten Mopedreifen sollen genauso wie der Packen ausgelesener Zeitungen – Who wants yesterday's papers? – auf eine Wegwerfgesellschaft hinweisen, die Verbrauchtes am liebsten aus dem Gesichtskreis verbannt – in Verbindung gesetzt mit den alten Frauen im typisch japanischen Ambiente: Teezeremonie, Tatami-Matte, Nudelküche. „Breadman Son and Alzheimer-Mama“ heißt eine andere Fotoreihe, auf der Orimoto und seine Mutter in der Ecke eines kleinen Raumes stehen, der Künstler hat sich frische Brote und Baguettes vor das Gesicht gebunden. Orimoto hält seine Mutter, wie immer mit Stock und Mantel, an der Hand, umarmt sie, schaut die alte Frau über seine Baguette-Nase hinweg an; die Mutter wirkt lakonisch, nicht böse und kein Stück verwundert.

In einem weiteren Video machen die beiden – solidarisch mit Mopedreifen um den Hals – ihren täglischen Spaziergang in einem kleinen, schäbigen Park. Sie sitzen auf einer Bank und füttern Tauben mit Weißbrot. Die Tauben öffnen und schließen die Schnäbel, Kunst-Mama kaut, Orimoto kaut. „These are our lives of every day“, heißt es am Schluß des Films melancholisch. „And we still keep alive.“

Tradition und Entfremdung: ART-Mama. Bis 4.7., Mi. bis Fr. 15 bis 19, Sa. 12 bis 17 Uhr, Galerie MORI OGAI, über der aktionsgalerie Berlin, Große Präsidentenstraße 10, 10178 Berlin-Mitte

Wenn sie sich mit ihrer Freundin trifft, reden sie meist nichts: Sie verständigen sich über das Gefühl