Big in Japan

■  Vor 30 Jahren gründete der Schwarzwälder Hans Georg Brunner-Schwer das Jazz-Label MPS – eine Legende aus der Provinz

Kleine Dörfer ducken sich in den dunklen Tann, Höfe mit gewaltigen Dachstühlen sausen vorüber. Hin und wieder schiebt eine Lagerhalle ihre weiße Fassade in die Landschaft. Am Straßenrand ein Imbißwagen, der „Hirschen“ gegenüber verfällt, dazwischen dröhnt der Verkehr. Willkommen im Schwarzwald.

Wir sind unterwegs nach Osten, genaugenommen nach Villingen-Schwenningen, der „größten Stadtentwicklungsmaßnahme Baden-Württembergs“, wie die Broschüre des örtlichen Touristikbüros stolz verkündet. Ende der achtziger Jahre hatte die Stadt die höchste Selbstmordrate im Land, eine solide Heroinszene und eine beachtliche Arbeitslosigkeit. Vor fünf Jahren dann wurde sie von Focus zur „Stadt der Städte“ gekürt. Gutes Investitionsklima, lautete das Urteil. Satte Extrapunkte gab es für 2.100 Sonnenstunden im Jahr – mehr gibt's nur im Death Valley.

Kein Wunder eigentlich, daß hier, am äußersten Rand des Schwarzwalds, seit jeher seltsame Menschen wohnen. Menschen, die sich über Uhrengehäuse beugen und daraus ganze Industrien bauen. Oder Leute wie Hans-Georg Brunner-Schwer. Der Jazzfanatiker hatte es sich in jungen Jahren zur Gewohnheit gemacht, in gigantischen Konzertflügeln herumzukriechen, um dort mit dem Eifer eines Geheimagenten nach dem besten Platz für ein Mikrophon zu suchen. Eine Aufgabe, deren Bewältigung ebensoviel Besessenheit wie Stubenhockerei erforderte. Irgendwann in den sechziger Jahren wurde er dann tatsächlich fündig: „Sehr niedrig, direkt über den Saiten“, fand er heraus, müsse das Mikro hängen. Dann hätte der Zuhörer das Gefühl, er sitze dem Pianisten auf dem Schoß. Eine Erkenntnis, die ihn wenige Jahre später zu einem der begehrtesten Produzenten der deutschen Jazzszene machte. Die Platten, die auf seiner 1969 gegründeten „Musikproduktion Schwarzwald“ (MPS) erschienen, erzielen heute bei japanischen Sammlern oder britischen DJs Höchstpreise – manchmal sind es eben die kuriosesten Ideen, die am Beginn einer Erfolgsgeschichte stehen.

Bei Brunner-Schwer kamen sie nicht von ungefähr. 1918, eine knappe Dekade vor seiner Geburt, hatte Großvater Hermann Schwer in Villingen die Schwarzwälder Apparate Bau – kurz: Saba – gegründet, die mit der Produktion von Radioempfängern bald äußerst erfolgreich wurde. In den fünfziger Jahren kaufte sich Brunner-Schwer seinen ersten Flügel und begann seiner Obsession vom zwingenden Pianoklang hinterherzuschrauben. Das Wohnzimmer wurde zum Experimentalstudio umgebaut, Wolfgang Dauner das erste Versuchskaninchen, an dessen Spiel der Villinger Soundmaniac seine aufnahmetechnischen Konzepte durchexerzierte.

Bald darauf pilgerte die Crème der deutschen Jazzszene in das Uhrendorf im Nirgendwo: Horst Jankowski, Albert Mangelsdorff, Hans Koller, Alexander von Schlippenbach. Für die Musiker, die gerade anfingen, am Modell eines Jazz jenseits des amerikanischen Mainstream zu arbeiten, dürften Brunner-Schwers Aufnahmen ein narzißtisches Initialerlebnis gewesen sein. Nie hatte man sich auf einer gewöhnlichen Langspielplatte so zwingend ganz vorne am Bühnenrand im gleißenden Rampenlicht spielen gehört; nie hatte ein Produzent mit ähnlichem Gespür die maximale fleischliche Präsenz am Instrument in Sound übersetzt. Jazz mit Ausrufezeichen, jede Note zum Anfassen. Brunner-Schwer traf damit genau das, was Joachim Ernst Behrendt wenig später als „optische Qualität des Jazz“ feiern sollte – die Unmittelbarkeit, den Ausdruck, „dieses Was-kostet-die-Welt-Selbstbewußtsein“ des Jazz, das im Zeitalter des Fernsehens sichtbar gemacht werden müsse. Nicht zufällig produzierte Behrendt, der Autor, Radiomoderator und Talentscout, dann selbst rund 150 Alben für MPS.

Brunner-Schwers Vision von einem Klang, der Komplexität und Authentizität auf einen Nenner bringen sollte, mündete in den Siebzigern in die konsequente Zusammenarbeit mit Musikern, die die Intensität des Free-Jazz in großformatige, breit orchestrierte Fusion-Projekte überführten. MPS wurde zur funky Schwarzwaldhütte für die internationale Jazzwelt. In Brunner-Schwers Heimstudio trafen sich Neuseeländer (Mike Nock), Jamaikaner (Monty Alexander), Franzosen (Barney Wilen) und Jugoslawen (Bora Rokovic) zu Brasil, Latin und Soul Jazz. Big Band Leader wie Peter Herbolzheimer, Erwin Lehn oder der Wiener Roland Kovac spielten fette Orchesternummern mit enormem Pop-Appeal ein. Zu privaten Abenden am heimischen Kamin kamen Ella Fitzgerald, Duke Ellington – und natürlich immer wieder Oscar Peterson, Brunner-Schwers Hausheiliger, der seinen gläsernen Swing hier in opulenten, oft mehrstündigen Pianosessions durchbuchstabierte. Trotz der Anerkennung innerhalb der Szene erwies sich MPS jedoch bald als zu teuer. Für das unabhängige Kleinlabel, das von den 700 Titeln im Programm im Schnitt jeweils nur 500 bis 5.000 Exemplare verkaufte, war die wirtschaftliche Perspektive alles andere als günstig. Nach dem euphorischen Aufbruch der sechziger Jahre und der hartnäckig betriebenen Erweiterung in Rock und Pop war Jazz in die Krise geraten – eine Musiker-Musik, die auf der Suche nach Anschluß den Anschluß verloren hatte.

1983 verkaufte Brunner-Schwer schließlich an Polydor; daß sich seine Schwarzwälder Free-Jazz- und Big-Band-Obskura wenige Jahre später auf den Plattentellern der Londoner Acid-Jazz-Szene drehen würden, konnte er zu diesem Zeitpunkt kaum ahnen. Von Gilles Peterson bis Rainer Trüby brachten die DJs MPS auf die Tanzfläche – und sorgten so für den späten Erfolg einer Legende aus der Provinz. Dietrich Roeschmann

Buch: Klaus Gotthard Fischer u. a.: „Jazzin' The Black Forest. MPS/Saba – Die Geschichte eines Jazzlabels“. Crippled Library 1999, 300 S., 750 Abb., 98 DM. CD: Diverse: Between Or Beyond The Black Forest – Dancefloor Jazz Classics From The Legendary MPS Label (Crippled Dick/EFA) In der Tonhalle Villingen ist eine Ausstellung zur Geschichte von MPS zu sehen.