Bloß nicht an Gräten ersticken!

taz: Frau Bonneau, Sie bringen Menschen gutes Benehmen bei. Wie sind Sie dazu gekommen, ein so offensichtlich begrenztes Gut zu produzieren?

Elisabeth Bonneau: Zufällig und überraschend. Ich war Gymnasiallehrerin und hatte eine berufsbegleitende Zusatzausbildung in Lernpsychologie gemacht. Danach konnte ich in meiner Schule Seminare zu Lernmethodik anbieten. Vor sechs Jahren hatte ich aber das Gefühl, daß der Schuldienst mich nicht mehr ausfüllt. Dann fing ich an, Kommunikationsseminare für Erwachsene zu konzipieren. Die Seminare zu Umgangsformen waren schlicht am meisten gefragt.

Sie haben sich auf Umgangsformen spezialisiert, weil es ein Bedürfnis nach richtigem Benehmen gibt?

Das hatte sicher auch mit meinen Kontakten zur Hotellerie zu tun. Die Hoteliers glaubten, ich könnte ihnen bei der Erschließung eines neuen Gästepotentials helfen.

Kurzum: Sie verhelfen Menschen, ihr Bedürfnis nach schöneren und vornehmeren Speisen zu befriedigen?

Ich selbst hatte nie ein ausgesprochenes Bedürfnis, eine Forelle richtig zu filetieren. Ich würde mir das am Tisch entweder machen lassen oder es für zu Hause gleich fertig einkaufen. Ich fand das Manuelle am Essen nicht so interessant. Aber es stellte sich plötzlich heraus, daß es genau das war, was bestimmte Leute unbedingt lernen wollen.

Was war an diesen Seminaren für die Hotels interessant?

Sie können Hummer besser verkaufen, wenn es mehr Leute gibt, die ihn zu essen verstehen.

Warum ist es überhaupt wichtig zu wissen, wie man eine Forelle filetiert?

Um keine Gräten im Mund zu haben. Es kann praktisch sein, nicht zu ersticken.

Vor dreißig Jahren wollten wir mit dieser Korsettage feiner Umgangsformen aufräumen. Haben Sie nun das Bedürfnis vorgefunden, endlich wieder ein Korsett anziehen zu können?

Ich fürchte, daß es diesen Wunsch gibt und daß ich zum Teil dieses Bedürfnis bediene. Aber das ist nicht mein Ziel. Ich halte bestimmte manuelle Fertigkeiten für sinnvoll, um sich Frust zu ersparen. Bei Tisch zu kleckern zum Beispiel. Es ist praktisch zu wissen, wie man eine Forelle auseinandernimmt. Man kann wissen, daß eine Forelle eine Hauptgräte hat und daß auch Gräten an Bauch und Rückenflossen sitzen. Wissen bietet sehr viel Freiheit im Umgang.

Ist es nicht eher ein Korsett?

Ein Korsett zwängt gewiß auch ein, aber in diesem Fall stützt es vor allem. Wenn man weiß, wie eine Forelle zu filetieren ist, kann man sie essen, wenn nicht, muß man auf diesen Genuß verzichten.

Es hebt das Lebensgefühl, wenn man mit dem Fischbesteck umgehen kann?

Ja. Wenn Sie es nicht können, gehen Sie zu bestimmten Veranstaltungen gar nicht hin oder fühlen sich dort unwohl. Ich kenne die Beschämung, wenn der Oberkellner einen von oben bis unten taxiert und an der Bügelfalte die Höhe seines Trinkgeldes abzulesen versucht. So will man sich nicht behandeln lassen, also kommt es darauf an, sich fit zu machen.

Fit für was?

Nicht für das Paradies. Diejenigen, die mein Angebot nachfragen, empfinden meine Tips nicht als Korsett, als subtilen Zwang, sondern als Handwerkszeug und als Möglichkeit von Befreiung.

Sie lehren also die Eröffnung von Konsumchancen und erkennen darin eine Befreiung. Um 1968 herum hätte man Ihnen Ihren Freiheitsbegriff um die Ohren gehauen. Umgangsformen sind Herrschaftsformen – also weg damit.

Sicherlich haben strikte Umgangsformen in Deutschland viele Menschen gesellschaftlich ausgeschlossen. Daß da einige dieser Konventionen verschwunden sind, halte ich für einen Fortschritt. Zum Beispiel die Regel, daß man die Serviette nicht faltet, wenn man fertig ist, weil es den Gastgeber beleidigt. Ich finde es sinnvoll, daß wir uns Gedanken um Formen machen, aber eben in dem Sinn, daß sie uns nicht einschränken.

Das setzt voraus, daß man sich über Formen immer wieder neu verständigt und sie stets neu aushandelt.

Das ist doch selbstverständlich, weil nur so der Begriff von Konvention einen Sinn macht. Ich habe in London in einem Herrenschuhgeschäft einmal die Frage gestellt, woher die Regel kommt: No brown after six – keine braunen Schuhe nach sechs Uhr abends. Der Verkäufer sagte: Brown is the colour of the country. Man will sich also von der Landbevölkerung unterscheiden. Als ich sagte, daß man das bei uns nicht so eng sehe, gab mir der Verkäufer klar zu verstehen: But brown is a German colour, you know.

Freiherr von Knigge hat die Entwicklung seines Verhaltenskodex stets als Aufklärung verstanden: Etikette ermöglicht allen Ständen, sich als Bürger zu begegnen. Wie kommt es, daß man Etikette oft als Behinderung begreift?

Das läßt sich teilweise mit der Beschämung erklären, die ein Mensch im Verlauf seiner Erziehung im Zusammenhang mit diesem Thema erfährt. Es gibt ja in vielen Familien den Unterschied zwischen innen und außen. Solange niemand zuschaut, dürfen viele Kinder alles, aber wenn Oma Hilde mit am Tisch sitzt, müssen sie geradesitzen. Sie brauchen sich ja nur einmal in Lokalen umzuschauen: Plötzlich sollen Kinder sich benehmen, wie sie es nicht kennen. Wenn sie es nicht tun, werden sie brutal getadelt. Dann werden Umgangsformen demütigend. Um das zu durchbrechen, habe ich einen „Knigge für Kinder“ geschrieben.

Die sechziger Jahre waren die des proletarischen Aufstiegs. Viele der heutigen Dienstleister haben ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse. Warum kommen die seminarierten Proleten unter den Verkäufern immer so künstlich daher?

Das Angelernte ist nicht integriert, es trifft auf keine Einstellung – und das bemerken die Kunden.

Wie sehen Sie den vielbeachteten Kleiderwechsel der Grünen, also vom handgestrickten Wollpullover zu Armani?

Wer international in der Politik beachtet werden will, kleidet sich geschickterweise wie die anderen. In Turnschuhen läßt sich im Pentagon schlecht verhandeln.

Ein Politiker in Turnschuehen würde nicht ernst genommen?

Sicher nicht. Das mag man bedauern, aber so liegen die Dinge nun einmal. Die Grünen von 1983 spielten auf einer anderen Bühne als Joschka Fischer und Jürgen Trittin jetzt. Daß sie nun schicke Anzüge tragen, ist in der Sache nicht zwingend, aber es hilft ihnen, der Konvention, also den Spielregeln, zu folgen. Die vorhandene Übereinkunft der Kleiderordnung muß nicht erst mit verhandelt werden.

Ist nicht gerade die hohe Aufmerksamkeit, die man der neuen Kleiderordnung der Grünen gewidmet hat, Ausdruck einer gewissen Starrheit?

Es waren ja die Grünen selbst, die fürchteten, daß Fischer möglicherweise nicht mehr einer von ihnen sei. Es kam der Verdacht des Verrats auf. Daß es so stark beachtet wurde, ist auch Ausdruck von Verlustangst.

Kann man sagen, daß der deutsche Durchschnittsmann mittlerweile stärker auf seine Kleidung achtet?

Vom Mann im Jogginganzug auf dem Ku'damm einmal abgesehen, kann man schon sagen, daß der Deutsche im Geschäftsleben ein erhöhtes Gefühl für Ästhetik entwickelt hat. Natürlich gibt es immer noch eine ganze Menge schlecht angezogener Leute.

Schlecht in welcher Hinsicht?

Weil sie nicht sehen, daß Dinge nicht zueinander passen. Weiße Socken zum Anzug beispielsweise, die wahrnehmungspsychologisch außer auf dem Tennisplatz immer einen Blickfang bilden und so die Aufmerksamkeit auf etwas richten, was elegant überspielt werden sollte.

Haben Sie einen Stilgrundsatz?

Jedes Element sollte zweimal vorhanden sein. So ist erkennbar, daß es bewußt eingesetzt wird: Farbton, Material, Form. Ein blaues Hemd mit grüner Hose nebst bunter Krawatte zeigt vielleicht Gestaltungswillen. Ob das dann zusammenpaßt, sei dahingestellt. Mir geht es um die Herstellung von Wirkungsweisen.

Die Gesprächspartner waren: Harry Nutt, 40, bis vorigen Mittwoch Leiter der taz-Kultur, inzwischen Feuilletonchef der „Frankfurter Rundschau“, sowie Jan Feddersen, 41, Redakteur im taz.mag