■ Sparen und Reformieren: Schröder will Thatcher und Blair in einer Person und zur gleichen Zeit geben. Kann das gutgehen?
: Der lange Marsch aus den Illusionen

Nur ein französischer Patriot konnte Algerien in die Unabhängigkeit entlassen, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren. Nur der Papst und sein Kardinal werden die befestigten Beziehungen zwischen Kirche und Staat, Kirchensteuer inklusive, einmal ins Wanken bringen, ohne einen halben Kulturkampf auszulösen. Nur ein sozialdemokratischer Bundeskanzler kann den Bismarckschen Sozialstaat reformieren, ohne Umzüge und Demos in Marsch zu setzen, die von ferne an Klassenkampf erinnern.

Mit dem Haushalt 2000 hat Schröder eine stille Revolution begonnen: den Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialdemokratie – und aus dem Sozialstaat, wie wir ihn seit langem kennen- und lieben gelernt haben. Die Akteure haben, wie damals General de Gaulle und später einmal ein anderer Kardinal, Ratzinger, etwas getan, was sie vorher nicht einmal zu denken gewagt hatten. Der Kanzler hat dabei Profil gewonnen. Langsam werden Maximen und Konturen, aber auch die offenen Flanken dieser Kanzlerschaft erkennbar.

I.

Die drei Maximen Schröders sind rasch erzählt: Erst mal die Wahl gewinnen. Um nach 16 Jahren für diese SPD eine Mehrheit zu erzielen, brauchte der Kandidat die alte Linke und die neue Mitte. Dazu mußte Politik im Wahlkampf draußen vor der Tür bleiben, mußten die Wähler möglichst ruhiggestellt werden. Seine zweite Maxime: SPD non reformanda est. Die SPD ist nicht (mehr) reformierbar.

Die notwendigen Veränderungen in der Politik wie in der SPD lassen sich nicht erreichen auf den Wegen, die eine Programmpartei dafür kennt und auf denen sie gute wie schlechte Übung hat. Lernfähig ist die SPD (sind die Grünen, ist überhaupt jede Partei?) nicht in den alten Strukturen, sondern nur durch einen Putsch von oben und/oder durch eine politische Landnahme von außen.

Deshalb war es nur konsequent, daß das Schröder/Blair-Papier von der Insel und nicht vom (politischen) Festland kam. Deshalb hat es seine ironische Pointe, daß der Abschied vom Staat durch einen staatlichen Akt par excellence eingeläutet wurde: durch das Haushaltsbuch der Nation. Möglich aber wurde das alles nur, als der Leidensdruck einen gewissen Grenzwert überstiegen hatte. „Wir haben verstanden“: Diese Fanfare zum Aufbruch war nicht möglich am Ende eines innerparteilichen Programmdiskurses, sondern erst nach der Flucht Lafontaines, nach den Chaoswochen am Anfang und nach dem Desaster bei der Europawahl.

Schröders dritte Maxime schließlich: It's economy, stupid! (Auf die Wirtschaft kommt es an) reißt schon die Grenzen, Probleme und Widersprüche dieser Kanzlerschaft auf: Clinton und Blair hatten Vorgänger, welche die konservative Revolution besorgten. Schröder will offensichtlich die Rolle von Thatcher und Blair in einer Person und zur gleichen Zeit geben. Kann das gutgehen?

Niederlagen bei Wahlen wird er dabei, solange sie nur woanders einschlagen, so lässig wegstecken wie Kohl. Anders als Helmut Schmidt regiert er gleich von Anfang an (vergeßt die Dankeskärtchen nach der Wahl!) – und nicht erst, wenn es zu spät ist – gegen seine Partei und manche ihrer Glaubenssätze. Wie Willy Brandt macht er sich nach einer langen CDU-Kanzlerschaft daran, neue Leitbilder zu formulieren, spricht er offen von einem „Paradigmenwechsel“, sein Finanzminister von der „Neudefinition der Sozialpolitik“.

II.

Was in ein paar Junitagen des Jahres 1999 begonnen wurde, das läßt sich mit einem Wort sagen: Godesberg II. Damals, vor vierzig Jahren, hat die SPD mit ihrem „Godesberger Programm“ eine Wende vollzogen, was ihr Denken über die Wirtschaft betraf; sie hat die Verstaatlichung der Wirtschaft als Leitbild verabschiedet.

Die Gesellschaft dagegen hat sie weiter wie selbstverständlich mit den Augen des Staates gesehen. Er war Agentur, Hoffnung und Projektion für sämtliche Probleme der Gesellschaft. Eine vorsichtige (und teilweise) Entstaatlichung der Gesellschaft und der sozialen Vorsorge: auf diesen Nenner könnte man vielleicht bringen, was Schröder, Eichel und Riester gegenwärtig versuchen.

Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt: nicht länger in den alten Routinen „mehr oder weniger Staat“ zu fordern, sondern zu fragen, wie er am besten vorgeht, wenn er in sozialer Absicht tätig wird. Gibt es liberale Wege zu sozialen Zielen? Riesters Idee etwa, die Pflichtversicherung durch eine Versicherungspflicht zu ergänzen, rückt dann in ein ganz anderes Licht: mehr Optionen und Wahlmöglichkeiten für den einzelnen und doch Festhalten am Ziel, die einen vor der Armut und die anderen vor einem Volk von Mindestrentnern zu schützen.

III.

Die Grenzen einer jeden Politik, die nur die Ökonomie und sonst nichts im Kopfe hat, liegen immer dort, wo weder Staat noch Wirtschaft die Probleme lösen können. Es kommt nicht nur auf das ökonomische, sondern auch auf das soziale Kapital an. Hat dieser Kanzler einen starken Begriff von einer Bürgergesellschaft, oder schrumpft bei ihm alles auf den Wirtschaftsbürger (der etwas unternimmt) und auf den Sozial(staats)bürger (der sich versorgen läßt)?

Das freilich wäre ein neues Denken in dem alten Schema, das da sagt: Es gibt nur die Privatwirtschaft, die Werte schafft, und den Staat, der gibt oder nimmt, verteilt oder wieder einsammelt. Den Sozialstaat reformieren heißt auch: die Gesellschaft an ihren Graswurzeln sozial aktiver machen.

Die Gesundheitsreform von Frau Fischer hat diese Pespektive von unten im Blick, wenn sie die Kassen wieder den Selbsthilfegruppen öffnet. Man darf gespannt sein, wann endlich das Bündnis für Arbeit sich auf unkonventionelle Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik, zur Integratin von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, zu einer neuen Zeitpolitik verständigt. In der Familienpolitik werden die öffentlichen Hände Milliarden und Abermilliarden ausgeben, als Vollzugsbeamte des Verfassungsgerichtes, aber niemand macht sich öffentlich Gedanken darüber, ob und inwieweit damit nur neues Geld in alte Schläuche gepumpt und die soziale Schieflage in der Gesellschaft und zwischen den Familien nur weiter verschärft wird – und ob ein Teil der Summe familienpolitisch nicht sehr viel besser und nachhaltiger investiert werden könnte.

Bei alledem geht es ja nicht nur um Sparen und Zahlen, sondern auch um eine neue Balance zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in einer offener und unsicherer werdenden Welt. Michael Walzer hat seine linken Freunde einmal dazu ermutigt, aus dem Scheitern ihrer Hoffnungen nicht die falschen Schlüsse zu ziehen: Nur weil die Vergesellschaftung (sprich: Verstaatlichung) der Produktionsmittel allüberall ins Desaster geführt habe, müsse man noch lange nicht für alle Zukunft auf eine (partielle) Vergesellschaftung (sprich: Entstaatlichung) der Wohlfahrtsproduktion verzichten.

Man muß die Reformen wohl, wie Schröder und Blair es vormachen, auf eine ziemlich autoritäre Weise (top down) beginnen. Problematisch und auch kontraproduktiv wird es allerdings, wenn sie nicht von Anfang an als demokratisches und soziales Projekt (bottom up) gedacht und gewollt werden.

IV.

Die kurz- und mittelfristige Gefahr für die rot-grüne Regierung besteht darin, daß ihr die entsprechenden Parteien auf dem langen Marsch aus den Illusionen unterwegs abhanden kommen. Bei der SPD darf man hoffen; sie ist eine robuste Partei. Sind die Grünen noch zu retten?

Exit, Voice and Loyality – Abwanderung, Widerspruch sowie Loyalität – hat Albert O. Hirschmann einmal als Möglichkeiten beschrieben, den Niedergang aufzuhalten. Die Loyalität ist, so scheint es, bei den Grünen verbraucht, oder sie geht, wo vorhanden, in gegensätzliche Richtungen. Die Stimmen, die man hört, sagen kaum etwas zur Sache; sie setzen wenig Energien und schon gar keine Synergien frei. Wo Kritik und Widerspruch keine Wirkung zeitigen, bleibt „Abwanderung“. Das meint nicht ideenpolizeiliche Abschiebehaft oder die Suche nach Sündenböcken, sondern nur den Hinweis: Auch die PDS ist eine deutsche Möglichkeit.

Am Ende gehen vermutlich weniger, als man denkt. Auch das kann man von Gerhard Schröder, der SPD und ihrem verblüffenden Ausbruch aus der Erstarrung lernen. Warnfried Dettling

Schröder hat den Sozialdemokraten faktisch ein zweites Godesberg verordnetDen rot-grünen Reformern droht unterwegs ihr Fußvolk abhanden zu kommen