Urbane Bedrohung, ländliche Hölle

■ Geschichten, Gedanken und Fragmente: aus Christine Garellys Nachlaß

Bequem und zögerlich kann diese Autorin nicht gewesen sein. „Ich liebe Geschwindigkeit! ... Es ist, als existiere der Raum um einen nicht mehr, den man durcheilt, nicht die Blicke, die einen verfolgen, nicht der Boden, über den man stürzt, als existiere kein Körper, kein Volumen, nur der eiserne, dahinfliegende Wille.“ Diese Sätze entstammen dem Kapitel „Geschwindigkeit“ aus Christine Garellys Buch Wenn ich rede. Die Hamburger Slam-Queen Tina Uebel hat es als Herausgeberin zum Prolog all der Geschichten gemacht, die sie nach Christines Tod lektorierte. Sie kannte die Autorin nur flüchtig aus der Hamburger Literaturszene, von einem literarischen Trip nach Chicago und von Lesungen.

Nähergekommen ist sie Christine Garelly erst durch Unmengen von Geschichten, Gedanken, Fragmenten und Skizzen – nach ihrem Unfalltod auf der Stresemannstraße. Mit 31 Jahren aus dem Leben gerissen und aus dem Prozeß ihrer künstlerischen Arbeit. Freunde und Bekannte aus der Szene faßten den Entschluß, ihr schriftstellerisches Werk posthum zu veröffentlichen. Tina Uebel suchte Geschichten auf Festplatten, Disketten, in alten Ordnern und in Kartons auf dem Dachboden.

Was sie fand, ist nichts für zarte Gemüter, denn Garellys phantastische Welten entwerfen bedrohliche Stadtszenarien und Höllen ländlicher Idylle. Monströse Mißgeburten wohnen da, Scheusale und Schönheiten. So beschreibt sie sich selbst als Nachgeburt eines 16 Kilo schweren Kohlkopfes, der in einer kühlen Ecke der Küche verfaulte, während sie selbst überlebte. Höchst merkwürdige Ansichten eine Säuglings sind zu lesen: weltfremd und nur langsam sich versöhnend mit der Umgebung. Fast liebevoll ist dagegen ihre Beschreibung gesellschaftlicher Außenseiterinnen: der putzsüchtigen Hilde, die erst ins Bett sinkt, wenn alles sauber und rein ist, oder der stattlichen Gerda, die im Müll lebt, bis sie friedlich zwischen den süßlich stinkenden Säcken einschläft.

Andere Figurenkonstellationen gleichen den gemeinen Malereien Hieronimus Boschs und verstören mit seltsamem Verhalten: „Die Frau, schon alt, mit ihrem Körper auseinanderlaufend, die immerzu redet, kommentiert, nichts einfach sein läßt, sondern es bespricht, mit dem Finger darauf deutend, jedes Ding in ein Worttütchen packen muß. Ihr Mann mit der braunen Zunge, den Ablagerungen im Mund und den gekrümmten Fingern, lacht. Die Toten auf dem Friedhof zählt sie auf, deren Geschichten unteriridisch ineinander verlaufen.“

Frederike Frey, Dozentin des Unikurses Schreiben, den die Kunststudentin Christine Garelly einige Jahre lang besuchte, porträtiert sie im Vorwort des Buches als Gast, als Geschenk. In diesem Sinne werden Freunde aus „ihrem“ Buch mit 60 traurigen, garstigen, hinterhältigen und auch komischen Erzählungen und 30 Illustrationen bei der Release-Party lesen. Mit dabei sind Micha Weins und Appoche, Dierk Hagedorn und Tina „Slamburg“ Uebel von der herausgebenden Edition 406, Joachim Bitter, Hartmut Pospiech, Folko „Machtu“ Hülsebusch und der Lyriker und Spion Matthias Göritz.

Stefanie Heim

Christine Garelly: „Wenn ich rede“, Edition 406, 252 Seiten, 20 Mark

Lesung: morgen, 21 Uhr, Prinzenbar, Kastanienallee 20