Eine Schulreform für das nächste Jahrtausend

Vor einem Jahr wurde die Grundschulreform 2000 eingeführt. In 25 Modellschulen gibt es verläßliche Betreuungszeiten und jahrgangsgemischte Gruppen. Beteiligte begrüßen Reform, strukturelle Schwächen aller Grundschulen würden dadurch aber nicht gelöst    ■ Von Julia Naumann

Das Zimmer mit dem grauen Teppichboden läßt an Wünschen kaum etwas offen. Es gibt einen Kassettenrekorder, bunte, großflächige Puzzles, Bingo-Karten, Telefone für einen kurzen Plausch. Hier können sich die Drittkläßler der Grundschule „Im Blumenviertel“, die direkt am Volkspark Prenzlauer Berg liegt, so richtig austoben. Und gleichzeitig etwas lernen. Denn alles, was in diesem Klassenzimmer gespielt wird, soll (möglichst) in englischer Sprache gemacht werden.

Seit einem Jahr lernen die Neun- und Zehnjährigen nicht nur „Yes and no“ und „How are you?“, sondern auch, wie man mit Spielkarten Zahlen, Farben, Einrichtungsgegenstände oder Kleidungsstücke benennt. Noten gibt es dafür keine. Auch die Pädagogen müssen keine ausgebildeten Englischlehrer sein.

Englisch ab Klasse 3 ist eines der wichtigsten Elemente der „Grundschulreform 2000“, die Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) zu Anfang des jetzt auslaufenden Schuljahres eingeführt hat. Ohne eine große öffentliche Kampagne, fast gehetzt präsentierte die Schulsenatorin im März vergangenen Jahres ein Konzept, mit der der jahrzehntealte Reformstau an den Grundschulen zumindest aufgebrochen werden sollte.

Mit ihrem Programm reagierte die Schulsenatorin auch auf den wachsenden Druck von Eltern, Lehrern und vor allen Dingen der CDU, die immer vehementer eine Leistungsdifferenzierung und mehr nur vierjährige Grundschulzüge forderte. 1975 gab es in Berlin die letzte Grundschulreform, die aber eher ein Reförmchen war. Damals wurde der Grundsatz des Sitzenbleibens aufgehoben und der Förderunterricht eingeführt.

Die wichtigsten Punkte des Reformprogramms 2000 sind eine familienfreundlichere Halbtagsschule, also eine feste Betreuung von 7.30 bis 13.30 Uhr, Fremdsprachenunterricht bereits ab der 3. Klasse und zwei Stunden zusätzlichen Fachunterricht in der 5. Klasse. Außerdem soll es jahrgangsgemischte Lerngruppen geben, und die Schulanfangsphase kann flexibilisiert werden, d.h. wenn Kinder zwischen Vorklasse und 2. Klasse schneller lernen, können sie schneller als üblich in die dritte Klasse aufrücken.

Doch flächendeckend für ganz Berlin wurden die Umstrukturierungen noch nicht vorgenommen. Für ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt wählte die Schulverwaltung erst einmal 25 Grundschulen aus, ab Herbst werden 20 weitere mitmachen. Im Schuljahr 2003/2004, so die vorsichtige Schätzung von Dieter Sommerlatte von der Schulverwaltung, der das Programm entwickelt hat, sollen dann alle Grundschulen reformiert sein. Derzeit gibt es 470 Grundschulen in Berlin.

An allen Grundschulen wurde in diesem Schuljahr bereits das sogenannte Wahlpflichtfach verbindlich (WUV) in der 5. Klasse eingeführt. Darin werden zwei Stunden pro Woche eine weitere Fremdsprache, Technik, Naturwissenschaften oder Schulspiel oder andere Bereiche angeboten. Auch hier gibt es keine Noten. WUV soll im nächsten Schuljahr auch auf die 6. Klassen ausgeweitet werden. In 190 Grundschulen wird bereits Englisch ab der dritten Klasse, in 18 Schulen Französisch unterrichtet.

In der Grundschule „Im Blumenviertel“ ist von Reformstau nach einem Jahr Modellprojekt überhaupt nichts zu spüren. Kein Wunder, die Schule arbeitet schon seit Jahren nach dem Montessori-Prinzip, Eigenverantwortlichkeit der SchülerInnen, gemeinsame Lerngruppen mit unterschiedlichen Anforderungen und Nachmittagsbetreuung sind selbstverständlich. In der Plattenbauschule wurde für die Grundschulreform 2000 quasi vorgearbeitet. „Wir mußten kaum inhaltliche, sondern eher organisatorische Umstrukturierungen machen“, bilanziert Schulleiter Helmut Rambausek.

Das Modellprojekt funktioniere nur deshalb so gut, so Rambausek, weil es viel Unterstützung und Bereitschaft zur Innovation aus dem bezirklichen Schulamt gegeben habe. Immens wichtig sei auch, daß LehrerInnen und ErzieherInnen mit anpacken.

So ist der Englischraum deshalb nur so liebevoll und kreativ ausgestattet, weil die Materialien eigenhändig von engagierten LehrerInnen teilweise aus England und den USA besorgt – und aus dem eigenen Portemonnaie bezahlt wurden. „Natürlich ist es eine riesige Dummheit, so viel zu arbeiten“, scherzt der Schulleiter. Aber das Ergebnis lohne sich.

Lehrer Rambausek findet die nötige Mehrarbeit nicht so problematisch. Teamsitzungen, Absprachen, immer wieder Gespräche mit den Eltern – ohne die geht es eben nicht. Bekommen hat die Schule in diesem Schuljahr nur 24 Lehrerstunden, also fast eine Stelle zusätzlich. Ingesamt sind für das gesamte Modellvorhaben in den nächsten zwei Jahren 406 Lehrerstellen eingeplant, dafür für WUV allein 200, so Sommerlatte.

Daß als erstes nur die Grundschulen mit dem Modellvorhaben „belohnt“ werden, die auch schon in der Vergangenheit gute Arbeit geleistet hat, findet Sybille Volkholz, die schulpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, sinnvoll. „Eine solche Reform kann man nicht gleich schnell an allen Schulen anwenden“, ist sie überzeugt. Dennoch drängt sie auf Tempo: „In fünf Jahren sollten alle Grundschulen in das Reformprogramm einbezogen sein.“ Insbesondere auch, weil es in Berlin dringend eine verläßliche Halbtagsschule geben müsse. Hamburg ist da schon viel weiter.

Im Ostteil Berlins ist das Problem nicht so gravierend, denn hier gibt es an den meisten Grundschulen noch den aus der DDR übernommenen „offenen Ganztagsbetrieb“, wo ein Hort an die Schule angeschlossen ist. Im Westteil sieht es damit schlecht aus. So bewarb sich die Bruno.-H.-Bürgel-Grundschule in Lichtenrade vor allen Dingen auch deshalb um das Modellprojekt, weil drei Viertel der Eltern in einer Umfrage verläßlichere Betreuungszeiten forderten. Einen Zuschlag bekam die Schule nicht. Dafür sei die Schule vielleicht zu normal, mutmaßt die kommissarische Schulleiterin Ingrid Linke.

Doch auch bei den Projektschulen im Westen gibt es in Sachen Betreuung Probleme. Es ist zwar Inhalt des Schulversuchs, ein gemeinsames Frühstück zu organisieren, die Kinder sind jedoch großteils auf das von zu Hause mitgebrachte Pausenfrühstück angewiesen. Ein ungelöstes Problem, so muß die Schulverwaltung einräumen, seien außerdem die warmen Mahlzeiten, die nicht angeboten werden könnten.

Dennoch, die Grundschulreform 2000 wird von allen Beteiligten, Lehrer-, Eltern- und Schülerverbänden, „in der Sache“ durchaus als positiv angesehen. Kritisiert werden eher die strukturellen Mankos aller Grundschulen, die natürlich auch durch die Modellvorhaben nicht beseitigt werden. Zum Beispiel der Unterrichtsausfall, weil es zu wenig Vertretungslehrer gibt, oder die Kürzung der Schulsozialarbeit zugunsten von reinen Sprachkursen für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. „Gebe es die allgemeine schlechte Situation an den Grundschulen nicht, wäre die Grundschulreform 2000 ein sehr gutes Programm“, faßt es der GEW-Vorsitzende Ulli Thöne zusammen.

Halbwegs zufrieden sind auch die, die mehr Leistungsnachweise in der Grundschule forderten. „Es ist Bewegung in die Grundschulen gekommen“, muß auch die schulpolitische Sprecherin der CDU, Marion Kittelmann, konstatieren. Dennoch fordert sie „mehr Mut“ für eine gezieltere Förderung, nicht nur innerhalb einer Klasse, sondern auch durch äußere Leistungsdifferenzierungen, wie eine Art Kurssystem in den oberen Klassen der Grundschulen, in der leistungsschwache von leistungstarken Schülern getrennt werden.

In der Grundschule „Im Blumenviertel“ setzt man dagegen auf den spielerischen Umgang. Und daß die Schüler dort mindestens genausoviel lernen, ist schon im Englischunterricht für die Drittkläßler zu merken: Zwei Schülerinnen reden entspannt am Telefon. Auch wenn das Englisch noch nicht ganz perfekt ist, verständigen können sie sich auf jeden Fall. „My Lieblingsbuch sind Horsegeschichten. And yours?“

Der Schulversuch sieht eine Halbtagschule mit festen Betreuungszeiten vor, doch am Frühstück und einem warmen Mittagessen scheitert es häufig