: Zum Staatsfeind wird man erzogen
■ Der Schriftsteller Udo Scheer hat eine einfühlsame Reise ins Jena der frühen achtziger Jahre zu den Ursprüngen der Friedens- und Oppositionsbewegung der DDR unternommen
Was waren das für Zeiten, als man sich Gedichte aus den Händen riß, und nächtelang darüber debattierte? Und wo passierte das?
Zuletzt wohl in den siebziger und achtziger Jahren, an Orten musischer, akademischer und revolutionärer Tradition – Jena beispielsweise, überschaubar im Tal, mit 100.000 Einwohnern; Gleichgesinnte fanden sich schnell und wohnten nah beisammen. Provinz wurde zu einem Zentrum der Opposition, zum Weltort, weil es da, nach Meinung Wolf Biermanns, „mehr aufrichtige, tapfere junge Leute als in anderen Kaffs der DDR“ gab. „Und die Stasi in Jena muß besonders stolz gewesen sein, daß sie dort Heldentaten vollbringen konnte, die man ja in einem Ort, wo alles still ist, nicht vollbringen kann. Die lebten ja davon. Die lebten ja von uns.“ Biermann gab Hausmusik auf „Lyrikfeten“, wo auch Jürgen Fuchs oder Lutz Rathenow lasen. Sie initiierten den Arbeitskreis Literatur, dessen Anziehungskraft die Stasi so brisant fand, daß sie nicht nur den Operativen Vorgang „Pegasus“ eröffnete, sondern „unter Führung und Kontrolle der Partei“ einen neuen Kreis „als Gegenpol für lyrisch negativ wirkende Personen“ einrichten ließ.
Literatur aber ist nonkonform, subversiv, besonders in Diktaturen: direkter oder zwischen den Zeilen lesbarer Widerspruch zur öffentlichen Verlautbarung. Mit Auftrittsverbot, Disziplinierungs- und „Zersetzungsmaßnahmen“ (Wohnungsdurchsuchung, Verleumdung, Zerstörung von Vertrauensverhältnissen), Kriminalisierung versuchte das MfS, unliebsame Künstler mundtot zu machen. Und wem man selbst mit Einsperren nicht beikam, den sperrte man aus – in einer Art Agentenaustausch, als Form von Menschenhandel. Und mancher Dissident begriff den Westen auch (nur) als Exil – ein Exil, das, wie wir von Fuchs wissen, keinen Schutz vor Stasiverfolgung bot.
Durch den Tod des Schriftstellers und Sozialpsychologen gewinnt die Lektüre zusätzliche traurige Brisanz. Vermutlich (und das war auch ein Verdacht von Jürgen Fuchs selber) verseuchte die Stasi im Gefängnis ihn und andere Regimegegner durch radioaktive Strahlung.
Udo Scheer, studierter Technologe, Schriftsteller und seit der Wende freier Publizist und Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Jena, kennt die Zeit und Szene aus eigenem Engagement. Sein Buch – ein Teil deutscher Literatur- und Oppositionsgeschichte mit Scharfeinstellungen auf „normalen“ DDR-Alltag – besteht aus der Stimme des Autors und denen seiner Gesprächspartner, aus Gedichten („Hetzgedichte“), Liedern, Dialogen, Resolutionen und – krasser Gegenklang dazu – Stasi-Wortmüll: diese aufgeblähte noch nazideutsche „Kampfrhetorik“ analysiert Scheer nur knapp. Ihm kommt es auf Erinnerung der Beherrschten an, und er zitiert äußere Stimmen, wie die Franz Alts: Die unabhängige Jenaer Friedensbewegung sei für die westdeutsche Friedensbewegung sehr ermutigend gewesen; und sie hätte Gorbatschow – das habe er ihm selbst gesagt – in seiner Abrüstungspolitik bestärkt.
Scheer stellt präzise Fragen zum immer noch ungeklärten Tod von Matthias Domaschk im Stasi-Gefängnis. Er erzählt von Roland Jahn, der am ersten Mai links als Hitler, rechts als Stalin frisiert sich neben der Politprominenz postierte, die Parade des Kampf- und Feiertagsvolks mit abnahm, im Gewühl wieder untertauchte – lange passierte nichts, doch schließlich wurde auch er inhaftiert und abgeschoben. „Du wirst ja nicht als Staatsfeind geboren, sondern du wirst zum Staatsfeind erzogen. Diese Republik hat die Staatsfeinde herangezüchtet.“ Aber die wollten zunächst gar nicht die Abschaffung des Sozialismus erreichen, sondern ihn verbessern.
Aus Angst vor Machtverlust übte die SED-Kaste Druck aus, erzeugte neues Demokratiebegehren und reagierte darauf mit noch stärkeren Repressionen. Mancher durchbrach den Teufelskreis. Visionen überwanden ihn. Informationen aus der DDR wurden raffiniert über Westmedien zurück in die DDR lanciert.
Nach Biermann kann man die Hauptpersonen des Buches Widerstandskämpfer nennen: „Das Regime sah sie so und zu Recht, denn es war schon jeder Mensch ein Widerstandskämpfer, der sich diesem totalitären Anspruch entzog ... Die haben sich zusammengesetzt und sich gegenseitig ein paar Gedichte vorgelesen. Und es ist sehr schwer, den Leuten im Westen zu erklären, warum das von den Herrschenden in der DDR so scharf verfolgt wurde. Weil die Leute im Westen nicht begreifen, was ein totalitäres Regime bedeutet ...“
Christoph Kuhn
Udo Scheer: „Vision und Wirklichkeit – die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren“. Erschienen in der Reihe Forschungen zur DDR-Gesellschaft Ch. Links Verlag, Berlin 1999, 244 Seiten, 38 DM
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