Meister Proper fiedelt auf Speed

Pogo muß ein Volkstanz aus Ungarn sein: Wo verläuft die Grenze des Folk? In Rudolstadt, beim östlichsten Folkfestival Westeuropas, pflegt man die Extreme – weder traditionslinkes Liedermachertum, Ostprotestlieder noch Elektronik sind tabu  ■   Von Christian Rath

Die Rudolstädter waren entsetzt. Fünf Leute, so wurde getuschelt, haben sich am Marktbrunnen mit nur einer Zahnbürste die Zähne geputzt. „Freut euch doch, daß sie sich überhaupt die Zähne putzen“, entgegnete Jugendpfarrer Walter Schilling. Das war 1979, beim Hippiefest „June 79“, das unter dem Dach der Kirche stattfand und DDR-weit ausstrahlte. Zwanzig Jahre später erinnerte eine Ausstellung im Rahmen des Tanz- und Folkfests Rudolstadt (TFF) an die wilde Zeit des Ostthüringer Städtchens.

Das Tanzfest existierte bereits 1979 längst, aber mit ihm wollte der langhaarige Teil der DDR-Jugend nichts zu tun haben. Beim „Tanzfest der DDR“ gab's nämlich vor allem trachtenselige Bühnendarbietungen aus den „sozialistischen Bruderstaaten“ zu sehen. Das änderte sich nach der Wende. Folkmusiker aus Leipzig, verstärkt durch einige Westkollegen, übernahmen das Kommando und machten das Fest schnell zu einem Folk- und Weltmusikfestival mit europäischer Bedeutung, zum größten derartigen Ereignis in Deutschland. Die ehemaligen June-Aktivisten hatten damit allerdings nichts zu tun. „Das Tanzfest war uns einfach suspekt“, erinnert sich Walter Schilling. Die Jubiläumsausstellung im Rahmen des TFF führte nun zusammen, was schon viel früher zusammengepaßt hätte.

DDR-Nostalgie bis „Nach der Schlacht“

Auch sonst gab es am letzten Wochenende nostalgische Momente. So spielte eine Leipziger Sessionband vor 3.000 Leuten auf der Heidecksburg alte DDR-Folkstandards – von „Widele wedele“ bis zum brisanten „Nach der Schlacht“ der verbotenen Renft-Combo. Daß der DDR-Folk dem Untergrund meist näherstand als der Staatsmacht, ließ die fast bierzelthafte Fröhlichkeit der Sessionband in Rudolstadt allerdings kaum erahnen.

Wieder zusammengefunden hatte sich auch die westdeutsche Gruppe Fiedelmichel. Sie bildete in den 70ern zusammen mit Zupfgeigenhansel, Hannes Wader, Elster Silberflug und Liederjan die Speerspitze des Deutschfolk-Booms. Allerdings hatten sich die Mitglieder weit auseinanderentwickelt. Thomas Kagermann etwa wurde zum Esoteriker („Musik ist die Verbindung zu unserer kosmischen Herkunft“) und spielt auch mit konservativen Wandervögeln zusammen. Martin Hannemann und Mick Franke dagegen beharren darauf, daß „Folk mit Anspruch“ links sein müsse. Und da die Linken bei Fiedelmichel noch in der Mehrheit sind, wurden in Rudolstadt auch alte linke Lieder gesungen („Der Deserteur“, „Es lebe hoch die Polizei“); dazu noch einige Tanzstücke, die man allerdings nicht mehr, wie einst, als „Entspannung zur Vorbereitung auf die nächsten Kämpfe“ rechtfertigen mußte.

Diesen Einblick ins Innenleben der Fiedelmichel bot eine Veranstaltung unter dem Motto „Meet the Band“. „Bei englischen Folkfestivals ist es üblich, daß das Publikum die Künstler nach dem Konzert löchern kann“, berichtete Moderator Mike Kamp von der Folk-Zeitschrift Folker!. In Rudolstadt soll dies nun auch möglich sein. Die Talk-Premiere verlief allerdings mäßig erfolgreich – die meisten Termine fielen kurzfristig aus, weil die Künstler sich mit dem Konzept doch nicht anfreunden konnten.

Erfolgreicher Deutschfolk der 90er ist vor allem Partymusik. Publikumslieblinge waren in Rudolstadt zum Beispiel die Stuttgarter Polka-Rocker „Hiss“. Frontman Stefan Hiss, angetan wie ein mexikanischer Provinzunterhalter, bot perfekt durchdachtes Entertainment, bei dem die Anpreisung der eigenen CD („Tut Buße“) letztlich als Höhepunkt des Konzerts zelebriert wurde.

Dagegen legten die Transsylvanians, eine Berliner Gruppe, die ungarischen Powerfolk spielt, auf eine geschliffene Liveshow überhaupt keinen Wert. Während der kahlkopfige Geiger Andras Tiborcz wie Meister Proper auf Speed über die Bühne jagte, schien Frontfrau Silvana mit den Gedanken sonstwo zu sein. Daß die Transsylvanians dennoch wie kaum eine andere Band gefeiert wurden, hatte einen einfachen Grund: ihre grandiose Abfolge von Abtanzstücken. Pogo muß ein Volkstanz aus Ungarn sein.

Wie im letzten Jahr ging der deutsche Folkförderpreis nach Bayern, diesmal an den Zitterspieler Robert Zollitsch („de Zither mocht an moads Saund, is aba sauschwaar z'schpuin“). Neben dem Zitterspiel kombiniert Zollitsch das bayerische Jodeln mit fernöstlichem Kehlkopf- und Obertongesang. Eine Verbindung, die für ihn viel mehr ist als ein schicker Gag – er arbeitet immerhin schon seit Jahren mit chinesischen Musikern zusammen und ist mit einer mongolischen Sängerin verheiratet.

Kehlkopfjodler trifft Klezmer-Avantgarde

Natürlich spielen in Rudolstadt nicht nur deutsche Musiker. Besonders hoch ist vor allem der Anteil osteuropäischer Gruppen – schließlich ist das TFF das östlichste der großen westeuropäischen Folkfestivals. Mit Spannung wurde diesmal das polnische Avantgarde-Klezmer-Projekt Kroke erwartet, es konnte allerdings krankheitsbedingt nur einen Kurzauftritt absolvieren. Von den übrigen Headlinern mutete vor allem der algerisch-französische Sänger Rachid Taha dem Publikum einiges zu. Nicht nur, daß er bei seinem Auftritt einen ziemlich heftig bedrogten Eindruck erweckte. Die Dramaturgie seines Konzerts, das einen Bogen vom arabischen Rock 'n' Roll zum eklektizistischen Techno schlug, führte dazu, daß beim rund viertelstündigen Finale außer Nebel und Scheinwerfergewitter auf der Bühne nicht mehr viel zu sehen war.

Elektronisch dominierte Projekte sind in Rudolstadt nicht tabu, auch wenn Folk bisher eher als handgemachte Musik verstanden wird. Die Gruppe IMA-C aus Finnland etwa mischte Drum-'n'-Bass-artige DJ-Culture mit Mundharmonikageräuschen und archaischen Stimmexperimenten.

Und der Berliner Sänger Michael Schieffel sampelte seine Stimme live auf der Bühne. Was seine vom Jazz kommende elektronische Kleinkunst allerdings für Rudolstadt prädestiniert, wie jemand nachfragte, wollte Programmdirektor Bernhard Hanneken lieber offenlassen. „Ist doch gut, wenn die Leute diskutieren, wo die Grenze von Folk heute verläuft.“