Shene Enes größter Tag

Das kleine Maasai-Mädchen in dem kenianischen Dorf ist erst zehn. Nun wird sie beschnitten. Dann ist sie eine Frau und kann verheiratet werden, statt zur Schule zu gehen  ■  Aus Saikeri Peter Böhm

Die Welt ist klein für Shene Ene Nanyoi. In der einen Richtung reicht sie vom Brunnen an der Straße bis zum Weiler Saikeri, eine knappe Stunde zu Fuß entfernt, mit einigen Läden und einer Krankenstation. In der anderen Richtung, das Tal hinunter, bis zum Haus eines Verwandten.

In der Schule war die zehnjährige, wie die meisten Mädchen hier, nie. Nun wird sie beschnitten, und sie könnte zur Schule gehen. Aber daraus wird nichts, denn eine ihrer älteren Schwestern wurde, obwohl schon einem anderen versprochen, in der Schule schwanger. „Das hat mich sehr geärgert“, sagt die Mutter. „Das passiert mir nicht noch einmal.“

Die Mutter selbst wurde mit 18 Jahren beschnitten, heutzutage geschieht das jedoch viel früher – „wegen der Schule“, sagt Santeto Ole Romo, ein Verwandter, der anstelle von Shenes Vater spricht, weil der vor ein paar Jahren gestorben ist. „Die Mädchen sind dort allen möglichen modernen Einflüssen ausgesetzt.“ Und daß ein Mädchen unbeschnitten schwanger wird, ist hier undenkbar.

Saikeri ist nur einen Katzensprung von Kenias kosmopolitischer Hauptstadt Nairobi entfernt, und doch trennen die beiden Orte Welten. Hier ist Maasai-Land, und die Maasai sind stolz auf ihre Kultur. „Wer seine Kultur verliert“, sagt der in den traditionellen roten Umhang gewandete Romo mit einem Blick, der, auf Wirkung bedacht, ins Unendliche gerichtet ist, „verliert sich selbst.“

In Shenes Familie allerdings verliert sich noch niemand. In den drei Hütten und dem Gatter mit 20 Rindern und ein paar Ziegen und Schafen in der Wildnis hat jeder seinen festen Platz und sein feste Aufgabe. Shene hat von ihrer Mutter gelernt, was Mädchen hier so lernen: Wasser und Feuerholz holen, kochen, saubermachen und sich um die kleinen Kinder kümmern. Wenn jedoch am Nachmittag vor ihrem großen Tag ein Fremder kommt, um zu fragen, was sie denkt, dann ist sie so verängstigt, daß sie dessen Blick nicht standhalten kann. Sie nestelt an den Kleidern einer ihrer Kusinen, die auf ihrem Schoß sitzt. Ob sie Angst vor der Operation hat? Sie zögert, sinkt immer mehr in sich zusammen und bringt dann schließlich ein „Nein“ heraus.

Shene ist, wie bei den Maasai üblich, schon „gebucht“. Eine Frau kam, als ihre Mutter mit ihr schwanger war, und sagte, wenn es ein Mädchen wird, dann möchte es mein Sohn heiraten. Die Mutter konnte den Antrag nicht ablehnen, denn die Familie der Frau hat viele Rinder, ist also reich. Shenes Welt wird dadurch jedoch nicht größer werden, denn ihr zukünftiger Mann ist der Nachbarssohn.

Natürlich hat die Mutter Shene nicht gefragt, ob sie beschnitten werden will. Es gibt ja auch keinen Grund, sich zu fürchten: „Ich habe Shene gesagt, sie braucht sich keine Sorgen zu machen, die Mädchen dürfen ja weinen.“

Shene weiß, was sie erwartet. Die Mädchen werden angehalten, bei der Beschneidung ihrer älteren Schwestern und Kusinen dabeizusein. Trotzdem hat sie nach der Operation ihres 15jährigen Bruders am Mittag einer der älteren Frauen erzählt, sie habe Angst. Shenes Bruder ertrug brav, ohne mit der Wimper zu zucken, daß ein Krankenpfleger mehr als zehn Minuten ohne Narkose an ihm herumschnippelte. Je länger es dauerte, um so nervöser wurden die Jungen und Männer um ihn herum. Die Kühe bemerkten die Unruhe und muhten, die Mutter raufte sich die Haare und rief klagend herum. Es habe viel zu lange gedauert, war danach die einhellige Meinung. Dem Krankenpfleger habe die Erfahrung gefehlt.

Die Mutter sagt danach, sie sei froh, daß sie für Shenes Operation eine traditionelle Beschneiderin engagiert habe. Nasingoi Ene Nigoisa wischt die Frage, wie viele Mädchen sie schon beschnitten habe, mit einem selbstbewußten „Ach, unzählige!“ zur Seite. „Ich mache das seit 1977“, sagt die 50jährige und späht in die Runde, ob nicht ein Mann mit Honigbier in der Nähe ist. „Die Frau, die es sonst machte, war betrunken. Sie sagte: ,Komm her und helfe mir. Du machst das jetzt. Das geht so!“

Bis vor ein paar Jahren benutzte sie noch ein Schuhmachermesser, heute aber eine Rasierklinge, „weil man das Messer so oft schleifen lassen mußte“. Obwohl das Maasai-Gebiet bisher eine Bastion der Tradition geblieben ist, so ist dort doch auch nicht verborgen geblieben, was in der Welt außerhalb geschieht. „Ich“, behauptet Nigoisa in ihrer verbindlichen Art, „entferne nur die Klitoris.“ Das dürfte jedoch nicht die ganze Wahrheit sein, denn nach Untersuchungen von Frauengruppen, die gegen die Beschneidung kämpfen, werden in der Maasai-Tradition die Klitoris und die kleinen Schamlippen entfernt.

Zwar hat Nigoisa davon gehört, daß es diese Frauengruppen gibt, aber Sorgen macht das ihr nicht. „Das wird unsere Kultur nicht aufhalten“. Einmal in Fahrt, ist sie in ihrem Redefluß kaum mehr zu bremsen. Sie ist offensichtlich betrunken. Komplikationen habe es bei keiner ihrer Operation gegeben, spätere Gesundheitsschäden seien ausgeschlossen, ganz im Gegenteil: „Es läßt die Mädchen schneller wachsen.“

Die Beschneidung ist ein wichtiges Initiationsritual. Aus einem Mädchen wird eine Frau, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, das heiraten und Kinder kriegen kann. In der Maasai-Tradition, erklärt Romo, souverän auf seinen Hirtenstock gestützt, gilt die Klitoris als schmutzig: Sie sondert Flüssigkeit ab, es können sich Keime in ihr verstecken. Und sie müsse entfernt werden, „damit das Kind bei der Geburt durch kann“.

Nach einer Nacht mit noch mehr Honigbier, einem bescheidenen Essen und traditionellen Liedern und Tänzen werden kurz nach Sonnenaufgang die Vorbereitungen für Shenes Operation in dem Kabuff getroffen, wo nachts die Kälber, Geißen und Lämmer untergebracht sind. Die Frauen führen Shene in die Hütte. Die Männer, die dort die ganze Nacht getrunken, geredet und gesungen haben, setzen sich auf die Steine vor die Hütte.

Eine Frau hält Shenes Arme von hinten. Die anderen, wenn notwendig, die Beine. Shene schreit, als die Operation beginnt: „Laßt mich los. Wollt ihr mich umbringen!“ Sie wird während der nächsten drei, vier Minuten weiter schreien. Zum Teil ist es markerschütternd. „Warum habt ihr einen Löwen gebracht, um mich fertigzumachen!“ Die Männer draußen lachen. Die Mutter, die herumläuft und Vorbereitungen für das Frühstück trifft, ist indigniert: „Warum nennt sie denn nun die Beschneiderin eine Bestie!“

„Hast du den Unterschied zur Operation des Jungen bemerkt?“ sagt der Übersetzer danach, stets bemüht, die Sitten und Gebräuche seines Volkes verständlich zu machen. Und der eigentliche Grund, warum Shene schon mit zehn, anstatt wie üblich mit zwölf Jahren beschnitten wurde, war ja auch die Zeremonie für ihren Bruder. Ein solches Fest, bei dem Honigbier gebraut und drei Tiere geschlachtet werden, könnte sich die Familie in zwei Jahren nicht noch einmal leisten.

„Es gab überhaupt kein Problem“, berichtet die Beschneiderin und läßt sich vor der Hütte nieder, um sich wieder dem Honigbier zu widmen. Die Frauen tragen Shene zu einem der mit Rinderfell bezogenen Bettgestelle in der Hütte, wo sie ein paar Stunden schlafen wird, wegen des Blutverlustes. Traditionsgemäß bekommt Shene frisches Rinderblut zu trinken. In den nächsten Tagen wird die Wunde mit Rahm und Schaffett eingeschmiert werden.

Nachdem Shene aufgewacht ist, verdeckt sie aus Scham mit der Hand ihr Gesicht, weil sie so gebrüllt hat. Die Frau, die am Bett wacht, weist ins Halbdunkel und sagt: „Ihr könnte es gar nicht besser gehen!“