Cinderellas Showdown

Alfred Biolek moderierte ein Gipfeltreffen der Ballettdirektoren  ■ Von
Gisela Sonnenburg

Auf der Bühne tobt ein Schneesturm. Eine Trauergesellschaft zieht vorbei, beerdigt Cinderellas Mutter. Das junge Mädchen bleibt allein am Grab zurück – und erst jetzt setzt schwelgerisch die Musik ein. Selbstvergessen tanzt Aschenbrödel dazu das Solo einer Kindfrau, die erwachsen wird.

So mitreißend kann Ballett sein, so cineastisch die Fantasie des Choreographen, daß man sich an den Zelluloid-Klassiker Dr. Schiwago erinnert fühlt. Auch sonst ist der Aufführung von John Neumeiers A Cinderella Story nicht anzumerken, daß sie bereits die 47. seit der Premiere ist. Die Ballerina Anna Polikarpova füllt die modernisierte Cinderella-Version mit Verve, entwickelt das Psychogramm einer trotzigen, gegen die Gesellschaft und die Konventionen aufbegehrenden Jugendlichen.

Manchmal ist sie darin fast ein – auch choreographisch zitierter – weiblicher Petrushka, so tragikomisch. Daß Neumeier anhand der Geschichte vom unter ihren bösen Stiefschwestern leidenden Aschenbrödel auch eine interessante Vater-Tochter-Beziehung aufblättert, die in einigen Pas de deux bis zur Grenze der inzestuösen Färbung geht, kommt der so gleichermaßen neu erfundenen Titelfigur nur zugute. Und dem Realitätsbezug: Am Ende, als Cinderella sich für den Prinzen entscheidet – der hier mit Zeichenblock und Stift in der Hand als Hobbymaler ebenfalls ungewöhnlich charakterisiert wird – bricht ihr Vater aus Schmerz über den Verlust wortwörtlich zusammen.

So gelungene, psychologisch einleuchtende und substanzhaltige Überarbeitungen von altbekannten Handlungsballetten sind rar. Vor allem in der nachwachsenden Choreographen-Generation gibt es kaum mehr Interesse für die tradierten Stoffe. „Wir haben in Deutschland drei Probleme: keine Choreographen, keine Choreographen, keine Choreographen“, konstatiert überspitzend Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts, während eines Gipfeltreffens deutscher Ballettdirektoren. John Neumeier hatte sechs Koryphäen zum Symposium Tanz heute – und morgen? in die Staatsoper geladen, moderiert vom TV-Prominenten Alfred Biolek.

Zwei Aspekte kristallisieren sich in der Podiumsdiskussion heraus: Zum einen die Tatsache, daß es zwar eine bunte, lebendige Szene mit jungen Choreographen gibt, diese aber fast ausnahmslos im Bereich des modernen Tanzes arbeiten. Dem klassischen Ballett geht dieses Potential verloren. Zweitens unterliegt die Muse Terpsichores derzeit allüberall den Sparzwängen. Der damit verbundene Stellenabbau im Bereich der Tänzer hat nur eine große Ausnahme: die Ballettstadt Stuttgart, wo Anderson dank Crankos Vorarbeit „ein in der ganzen Welt einmaliges Publikum“ vorfindet, und wo die städtische Ballettruppe demnächst auf siebzig Mitglieder aufgestockt wird.

Ansonsten wird das Ballett in Deutschland weiterhin wie Aschenbrödel selbst, wie ein ungeliebtes Stiefkind, behandelt. In Berlin werden die drei Compagnien der Opernhäuser trotz Unterschriftenlisten des Publikums zu einer einzigen eingeschrumpft. In Nürnberg ist die dortige junge Ballettdirektorin Daniela Kurz froh, wenigstens 24 Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung zu haben, und in Kiel stellt der gebürtige Ostler Stephan Thoß sein dortiges Ballettwunder mit gerade mal 19 Frauen und Mannen auf die kleine Opernbühne.

Da haben es Yuri Vàmos, der die Deutsche Oper am Rhein ballettös betreut, und Ivan Liska, der – ein ehemaliger Neumeier-Tänzer – in München das Erbe von Constance Vernon weiterführt, geradezu bestens: fünfzig Tänzer hat der eine, 68 sogar der andere. Doch wie die Zukunft des Balletts aussehen soll, können weder sie noch der hochmotivierte, junge Thoß beantworten. Die beim Gipfeltreffen kurzfristig für den erkrankten Leipziger Ballettdirektor Uwe Scholz eingesprungene Daniela Kurz holt gleich ganz weit aus: „Ich möchte eher die Theaterstrukturen als solche in Frage stellen.“

Daß die Drosselung von Ballettförderungen die Bundesrepublik ausgerechnet zu einer Zeit trifft, in der es endlich auch gute Tänzerausbildungen hierzulande gibt – darum mußte seit Kriegsende jahrzehntelang gefochten werden – ist so absurd wie kontraproduktiv. John Neumeier, der selbst eine international konkurrenzfähige Schule aufbaute, bringt die Misere auf den Punkt: „Jetzt, wo wir viel Tänzer-nachwuchs haben, verkleinern wir die Compagnien.“ Und warnt: „Wenn es hier in Hamburg nur zwei Tänzer weniger gäbe, müßten wir ein total neues Konzept erarbeiten.“

Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Politik. Doch was wird die schon ausrichten, wenn sich Intendanten wie Gerhard Brunner, der das neue Berlin Ballett, das er einrichten soll, „eine neue Rechtspersönlichkeit“ nennt, gegen kreative Köpfe durchsetzen?!