Streitenlernen fürs Leben

An 30 Schulen werden mittlerweile jugendliche Streitschlichter ausgebildet. Gestern trafen sich die Schüler zum ersten „Konfliktlotsentreffen“. Ihre Erfolge sind beachtlich  ■   Von Julia Naumann

Dieser Konflikt kommt sicherlich an jeder Schule vor: Eine Schülerin will auf dem Hof ihr Pausenbrot essen und wird von einer anderen angerempelt. Unabsichtlich. Glaubt die eine. Denn sie ist doch nur etwas zu schnell an der anderen vorbeigerannt. Doch das Pausenbrot ist auf die Erde gefallen und der Streit ist vorprogrammiert. „Du blöde Kuh“, schreit die eine. „Du alter Trottel“, schreit die andere.

Genau zu diesem Zeitpunkt, bevor womöglich Fäuste fliegen, gibt es Hilfe: Zwei sogenannte Konfliktlotsen – selbst Schüler –, die auf dem Schulhof gerade Dienst haben, schreiten ein. Nicht mit Gewalt, sondern mit energischen Worten und einem bestimmten Ritual: Die Streithähne werden voneinander getrennt und sollen dann in einem Gespräch die Konfliktursache benennen und gemeinsam eine für sie akzeptable Lösung suchen. An zehn Grundschulen und 20 Oberschulen sind mittlerweile sogenannte Konfliktlotsen aktiv. Ob es nun zu Prügeleien kommt oder „nur“ zu verbalen Attacken – Streitigkeiten werden nur in Ausnahmefällen von Lehrern oder gar Schulleitern gelöst, sondern eigenverantwortlich von den Schülern.

Das Modell hat das Berliner Institut für Lehrerfort- und Weiterbildung (BIL) Anfang der 90er Jahre entwickelt und basiert auf der US-amerikanischen Idee der Schulmediation. Die Lehrer werden im BIL als Mediatoren ausgebildet und geben die Kenntnisse dann an ihre Schüler weiter. Gestern trafen sich rund 100 Streitschlichter der Grundschulen, um auf dem „1. Konfliktlotsen-Treffen“ ihr Können zu präsentieren. Und das war beachtlich: Die 12jährige Alda, die ein Jahr lang in einer freiwilligen Arbeitsgruppe an der Birken-Grundschule in Spandau ausgebildet wurde, schiebt dreimal in der Woche in der großen Pause auf dem Schulhof „Wache“. Mit ihrer roten Schiebermütze ist sie sichtbar zu erkennen, ist sie eine kleine Autorität. „Viele Schüler kommen zu mir und wollen, daß ich helfe, manchmal schreite ich auch selbst ein“, erzählt die Sechsklässlerin selbstbewußt. Manchmal genüge es schon, an den Streithähnen „vorbeizuschlendern“. Als eine Art „Polizistin“ sieht sie sich aber nicht. „Wir wollen ja niemanden bestrafen“, sagt sie empört.

Wenn der Streit nicht sofort auf dem Hof geschlichtet werden kann, können die SchülerInnen sich auch in einen separaten Raum der Schule zurückziehen. Das Gespräch läuft dann nach festen Regeln ab. Jede Partei erzählt dem Losten den Streit aus seiner oder ihrer Sicht. Die Mediatoren wiederholen die Anschuldigungen der Konflikthähne, damit der Erzählende auch richtig verstanden wird. Beide sollen sich dann vom anderen wünschen, wie der Konflikt zukünftig vermieden werden kann und was sie dafür tun würden. Am Schluß wird häufig sogar eine Art „Schlichtungsformular“ unterschrieben, damit die Konfliktlösung verbindlicher bleibt. „Freunde müssen die, die sich streiten, aber nicht werden“, betont Alda.

Gerhard Neumann, einer der sechs Lehrer, die vom BIL für das Training abgeordnet sind, ist von der Methode begeistert. „Das Klima auf den Schulhöfen ist durch die Lotsen viel entspannter geworden“, hat der Lehrer an der Otto-Wels-Grundschule in Kreuzberg beobachtet. Sowohl die jugendlichen Mediatoren als auch die, die im Streit lagen, würden durch das Konzept eine große Selbstwertschätzung erfahren. Er habe beobachtet, wie Kinder nach einem Schlichtungstermin „stolz“ durch das Schulgebäude liefen und anderen Schülern von dem „tollen Gespräch“ erzählten. Die Schlichter selbst sind nicht nur Schulsprecher oder besonders Durchsetzungsfähige, sondern manchmal auch ganz Unscheinbare. So habe er ein „schüchternes, stilles Mädchen“ kennengelernt, das durch das Mediationstraining richtig „aufgetaut“ sei „und jetzt gerne selbstbewußt dazwischen geht.“

Die häufigsten Konflikte in der Schule sind laut Neumann verbale Beleidigungen: „Die tun den Schülern oft viel mehr weh.“ Nach Sprüchen von türkischen Kids wie „Ich ficke deine Mutter“ gehe es in der Konfliktschlichtung häufig um die Ehre der Familie, die zu retten sei. Neumann hält es für nötig, Konfliktschlichtung an möglichst vielen Schulen anzubieten: „Hier lernen die Schüler wirklich etwas fürs Leben.“