: Nicht vom Rand springen!
Warum Freibäder nicht Schwimmbäder heißen, brennende Augen Sicherheit geben und was Omas mit Arschbomben zu tun haben. Eine Betrachtung ■ von Holger Wicht
Chlor macht rote, brennende Augen, und das ist gut so. Da weiß man wenigstens, daß welches drin ist im Wasser. Das Chlor macht das sogenannte kühle Naß zwar nicht sauber, aber immerhin weniger infektiös. Das weiß jedes Kind, das da reinpullert. Außer den Kindern schwimmt noch Gras im Wasser, das sich vorher an Füßen befand, die über die Liegewiese liefen. An Kinderfüßen. Denn Kinder neigen dazu, die kalten Durchschreitebecken vor dem Barfußbereich zu umklettern, von den Duschen ganz zu schweigen. Anschließend springen die Kinder den Omas mit den rosa Rosettenbadekappen auf den Kopf. Wahrscheinlich treiben die rüstigen Seniorinnen deswegen immer quer durchs Becken, wenn man versucht, Bahnen zu ziehen. Es heißt ja nicht Schwimmbad, sondern Freibad.
Wenn die Kinder größer werden, springen sie von den Sprungbrettern. Nicht weil die braungebrannten Bademeister mit den Air-Force-Sonnenbrillen von ihren Tennisschiedsrichterstühlen herab mit Pfeifen trillern und über Lautsprecher grimmig maßregeln: „He Kleiner, nicht vom Beckenrand springen!“ Nein, die Kinder müssen sich gegenseitig beweisen, wie toll sie Köpper und Arschbomben vom Dreier können. Nur die Jungs natürlich. Die Mädchen springen nur selten und halten sich dabei albern die Nase zu.
Freundlicher als die Bademeister sind auf jeden Fall die Berliner Bäder-Betriebe. „Bitte nicht vom Beckenrand springen“ steht am Rand des Mitteilungspapiers – ganz dezent in kleinen Buchstaben von unten nach oben geschrieben. Wirklich wahr. Ob das wohl lustig gemeint ist? Vielleicht entspringt die Bitte am Rande des Briefpapiers aber auch echtem Verantwortungsbewußtsein. Das haben sie auf jeden Fall, die Berliner Bäder-Betriebe. Sie betreiben „Reformen und Umstrukturierungen, um das Berliner Badewesen neu zu gestalten und ein innovatives und attraktives Bäderangebot in Berlin zu entwickeln“. Umstrukturiert wurde zum Beispiel im Kreuzberger Kriegsgebiet das Prinzenbad. Eine Bretterzaunbarrikade mußte errichtet werden, um sittlich feinfühlige Menschen vor dem Anblick von Nudisten zu bewahren. Andersherum sind die Freikörperkulturschaffenden geschützt vor Voyeuren und den Distanzschußkünsten jugendlicher Fußballer. Auch die Aussicht auf bäuchige Bierdosenpicknicks brauchen sie nicht mehr zu fürchten. Eigentlich eine gute Sache. Trotzdem hallt ein Schlachtruf durch Kreuzberg wie zuletzt andernorts 1989: „Die Bretterwand muß weg!“ Die PDS hat sich gar zu einem entsprechenden Kommunalwahlversprechen aufgeschwungen.
Zum Glück sind die Bäder-Betriebe auf dem richtigen Weg: Sie unterscheiden zwischen freizeitorientierten Öffentlichkeitsbädern, Schul- und Vereinsbädern sowie Mischbädern, machen also „einen Teil der Bäder ausschließlich für bestimmte Nutzergruppen zugänglich, um so den individuellen Bedürfnissen der unterschiedlichen Besuchergruppen besser gerecht zu werden“. Jetzt muß nur noch die Öffentlichkeit sorgsam getrennt werden. Gute Ansätze gibt es bereits: Die quertreibenden Senioren werden zur Wassergymnastik in separaten Aqua-Arealen animiert, der Kinderschar versucht man mit beaufsichtigtem „Spiel- und Spaßbaden“ Herr zu werden – und mit straff organisierten Kindergeburtstagen. Der neueste Hit ist jedoch Aqua-Ball. Das ist eine Art Wasserball für Leute, die nicht schwimmen können oder wollen. Ein echtes Wasserballspiel verunsichert ja die meisten Menschen. Denn eigentlich müßte man doch untergehen, wenn man die Hände für den Ball braucht, außerdem wird man immer untergegluckert. Aqua-Ball ist die demokratisierte Variante. Jeder kann mitmachen. Angestrengt läuft man im Nichtschwimmerbecken umher und versucht, einen weichen Ball in ein viel zu kleines Tor zu werfen. Ein Heidenspaß, und die Nudisten haben erst recht keine Bälle mehr zu fürchten. Wenn sie sich auch ertüchtigen wollen, ziehen sie ausnahmsweise Bademode an und gehen in die Aqua-Jogging und Aqua-Aerobic-Kurse. Wenn viele mitmachen bei den Fun-for-fit-Angeboten der pfiffigen Bäder-Betriebe, dann ist das Schwimmerbecken frei für Leute, die schwimmen können und wollen.
Schwimmen und Baden – das ist ja ein Unterschied wie Pool und Tümpel. Wer einen Bademeister Bademeister nennt, hat – sagen wir es ruhig in aller Deutlichkeit – verschissen. Schwimmeister heißt er! Und er kann viel! Chlor regulieren zum Beispiel. Vorher muß er den Chlorwert messen. Obwohl er's eigentlich längst im Gefühl hat. Wind und Regen beispielsweise, das weiß er, sind echte Chlorkiller, Wärme und Kinder ebenso. Soll das Becken nicht zum Biotop werden, muß der Schwimmeister handeln. Mit seinem Test kann er übrigens auch feststellen, wieviel Chlor bereits von Verschmutzungen gebunden worden ist. Leider gibt es keine Tabelle, mit der man diesen Wert in gepinkelt habende Kinder umrechnen kann. Wer diesbezüglich sicher sein will, geht natürlich am besten frühmorgens schwimmen. Dann ist der Chlorwert meistens leicht überhöht. Macht nichts: Frühschwimmer sind fast ausnahmslos Seniorinnen und Senioren, die das Gesicht nicht eintunken. Oder echte Profis, die Schwimmbrillen ihr eigen nennen. Rote, brennende Augen bleiben ihnen erspart.
Der Autor, 28, hat seine Jugend dem Wasserball gewidmet und sich zwei Sommer als Hilfsschwimmeister verdingt. Er ist mehrfach unbeschadet vom Zehner gesprungen.
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