Poetische Übersteiger

Ein Spiritualist in der Oberliga: Der jamaikanische Rootsman und Ragga-„Messen-Jah“ Luciano entdeckte die Kraft seiner Worte als singender Eisverkäufer  ■   Von Nils Michaelis

Eine Welle der Spiritualität erhebt sich im Ragga – Konjunktur für Luciano, der verkündet: „Das Pendel schlägt jetzt in die andere Richtung.“ Eine neue Generation von Sängern führt die brachliegenden Ansätze der Siebziger fort, bezieht sich auf „Roots and Culture“, formuliert politische Kritik oder bezieht sich auf die gemeinschaftsstiftende Rastakultur. Mit „Where There Is Life“ gelang dem Rootsman Luciano 1995 ein Album, das für internationale Aufmerksamkeit sorgte und Rootsmusik auf ein höheres Niveau brachte. Die Rede eines möglichen Nachfolgers des Marleyschen Throns machte die Runde.

Doch bevor das Zeitgeistpendel sich Vertretern der Conscious-Lyrics zuwand – wie eben Luciano Anthony B., Sizzla oder Garnett Silk –, befand es sich auf der anderen Seite des thematischen Spektrums. Gun- und Slackness-Lyrics feierten wortreich die Freuden des Schußwaffenbesitzes oder wurden nicht müde, aus Bettgeschichten Verse zu machen. Doch bei allem Spaß, der oft bei ungezügeltem Angebertum mitschwingt – der Ernst des Ghettos stand meist gleich an der nächsten Straßenecke. Die dichterische Übersteigerung der Umstände, aus denen die Künstler kamen, drohte die Verhältnisse eher zu zementieren, statt den Ansatz einer Überwindung zu zeigen: die Hypothek, mit der die Dancehall leben mußte und mit der sich mancher Irrweg ergab. Als Buju Banton z. B., auf den in Jamaika tonangebenden Machismo bauend, zur Gewalt gegen Homosexuelle aufrief, löste Jamaikas Sänger Nummer eins damit weltweit Proteste aus. Und auch die Gunlyrics sind nicht mehr lustig, wenn man bedenkt, daß auf der 2,5 Millionen Einwohner zählenden Insel jährlich rund 1.000 Menschen ermordet werden. Im Ausland wird davon zumeist dann Notiz genommen, wenn es einen Reggaemusiker trifft, z. B. Bob Marley, der ein Attentat 1976 fast nicht überlebte, oder Prince Far I, der 1983 erschossen wurde, Peter Tosh 1987, King Tubby 1989, Garnett Silk 1994 oder vor einigen Wochen Junior Braithwaite, ehemals Mitglied von Marleys Wailers. Wie also aufrecht gehen unter Verhältnissen, die für die meisten auf die Vereitelung von Lebenschancen hinauslaufen? Freiheit durch Geld wirft meist auf Kriminalität zurück. Dem steht die Anrufung des Solidaritätsprinzips gegenüber, eine Bezugnahme, die gerade in Jamaika stets zwischen Antiimperialismus und den basisdemokratischen Anklängen der Rastafaribewegung schwankte.

In einem Interview erinnerte sich Luciano an ein spirituelles Schlüsselerlebnis, das er als Elfjähriger mit dem Tod seines Vaters verband: „Ich sah nur noch den physischen Körper meines toten Vaters, aber es gab keinen Geist, der ihn bewegte. Mir wurde in dem Moment etwas sehr wichtiges klar, daß nämlich die Seele die Essenz des Seins ist und daß dieser Geist das größte aller Geschenke ist.“ Eine Erleuchtung? Die Kraft seiner Stimme und Worte entdeckte der spätere „Messen-Jah“, als er als singender Eisverkäufer die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zog. Doch Luciano verstand sich immer eher als Prediger denn als Glücksritter: „Ich wurde nicht Künstler, um berühmt zu werden. Ich wollte immer dafür respektiert werden, daß ich eine spirituelle Botschaft bringe.“

Nach seinem Klassiker „Where There Is Life“ konnten spätere Platten jedoch nicht immer den Standard halten und beugten sich immer wieder den Vorlieben des US-Marktes nach weichgespülter R 'n' B-Harmonie und Barry-White-haften Schmusebärigkeiten. Doch die harte Währung in der Welt des Ragga sind die Singles, und auf diesem Medium gibt sich Luciano kompromißlos. Ein Spiritualist in der Oberliga.

Heute ab 21 Uhr Pfefferberg, Schönhauser Allee 176, Prenzlauer Berg