Eine Spirale aus Angst und Gefahr

■ Die Heidelberger Gerontologin Heidrun Mollenkopf über die Angst alter Menschen

taz: Frau Mollenkopf, in einer Studie, in der Sie 2000 Menschen ab 55 Jahren in Deutschland, Italien und Finnland zu ihrer Mobilität befragt haben, zeigte sich, daß die Befragten in Chemnitz und Mannheim am meisten Angst haben, nachts auf die Straße zu gehen. Wie erklären Sie sich das?

Heidrun Mollenkopf: Zum einen liegt es daran, daß Chemnitz und Mannheim größer und urbaner sind als Ancona und Jyväskylä. Die Kriminalitätsrate allerdings ist in allen Städten vergleichbar. Einen objektiven Grund für die Angst der Deutschen gibt es also nicht. Wir vermuten, daß bestimmte städtische Umgebungen dieses Gefühl der Angst erzeugen. Im übrigen könnte es sich auch um ein deutsches Phänomen handeln.

Liegt das an unterschiedlichen Mentalitäten?

Ich vermute, daß die familiäre Verbindung in Italien noch sehr stark ist. Es ist eine andere Basis, wenn jeder von jedem weiß. In Finnland halten sich die Menschen mehr im Freien auf. Das gibt ein anderes Selbstbewußtsein.

Die Deutschen bilden sich demnach die Gefahr nur ein?

Es passieren natürlich Überfälle. Aber überall, nicht nur in Deutschland. Ein Problem ist jedoch, daß solche Vorfälle in der Presse so ausgewalzt werden. Weil dadurch viele Angst haben, in Dunkelheit aus dem Haus zu gehen, sind die Städte nachts menschenleer oder durch den Autoverkehr beherrscht. Das erhöht dann tatsächlich die Gefahr. Und es führt dazu, daß immer weniger Menschen abends aus dem Haus gehen. Das ist eine endlose Spirale.

Wie könnte man diese Spirale durchbrechen?

Eine Möglichkeit wäre, die Straßen gut zu beleuchten, vor allem Fußgängerunterführungen und Grünanlagen. Außerdem müßte auch der öffentliche Verkehr verbessert werden. Abends könnten Busse häufiger halten. Dann verkürzt sich der Weg von der Haltestelle nach Hause. Wichtig wäre aber auch eine stärkere Selbstorganisation von Älteren. Sie sollten mehr Kontakt untereinander halten.

Haben solche Ängste mit Gewohnheit zu tun? Wenn man aus dem Berufsleben ausgeschieden ist und nicht mehr soviel aus dem Haus muß, fällt es vielleicht auch immer schwerer auszugehen.

Das spielt im Laufe der Zeit eine Rolle. Bei den heute älteren Menschen kommt aber noch etwas anderes dazu: Viele alte Frauen haben entweder nie den Führerschein gemacht oder keine Fahrpraxis, weil immer ihr Mann gefahren ist. Sie können sich dann nicht mehr darauf einstellen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Deshalb kann ich jeder Frau nur raten, so viel wie möglich selber zu unternehmen.

Nach Ihrer Studie haben ältere Menschen vor allem in den Stadtzentren Angst. In Chemnitz allerdings fürchten sich auch in den Außenbezirken viele. Woran liegt das?

Die Angaben beziehen sich auf eine spezielle Plattenbausiedlung. Dort fühlen sich die Leute sehr unsicher. Denn dort wohnen viele arbeitslose Jugendliche, und wenn die abends in Gruppen zusammenstehen, Bier in der Hand und ein großer Hund dabei, dann macht das Älteren einfach angst.

Wo sehen Sie angesichts dieser Ängste Defizite in der Politik?

Die Defizite liegen in der Aufklärung. Wo passieren tatsächlich Überfälle? In diesen Gegenden wird oft nicht genügend getan, um die Sicherheit zu erhöhen. Zudem muß in jedem Ort geschaut werden, wo die Knackpunkte liegen. Das können Jugendliche sein, die herumlungern, weil sie keinen anderen Ort haben. Oder Straßenzüge, die dunkel und unfreundlich sind. Interview: Jutta Wagemann