Werk wider die Wirklichkeit

■ Hermann Kurzke hat eine labyrinthische Biographie über Thomas Mann geschrieben

Sein Leben war eine Beherrschung, ein Sich-Zusammennehmen, ein „Zurückschrecken vor einer nach ihren Glücksmöglichkeiten sehr zweifelhaften Wirklichkeit“. Das schrieb Thomas Mann in sein Tagebuch, als er sich im Alter von 75 Jahren in den jungen Kellner Franz Westermeier verliebt hatte. Aus der Wirklichkeit schreckte er zurück – ins Werk. „Arbeit als Ersatz für das Glück, so muß es sein.“ Das Resultat ist ein großes Werk und – ein langweiliges Leben, mit einer Regelmäßigkeit des Tagesablaufs bis zum Exzeß. Kein idealer Stoff für eine Biographie.

Daß Hermann Kurzke trotzdem nicht nur kenntnisreich, sondern auch sehr lesenswert über Thomas Mann geschrieben hat, liegt an dem Konzept, daß er im Untertitel andeutet: „Das Leben als Kunstwerk“. Kurzke hat das gesamte Werk Thomas Manns in Tausende Zitate zerlegt und zu einer Lebensbeschreibung des Schriftstellers neu zusammengesetzt. In 232 kurzen Kapiteln mit so schönen Titeln wie „Familie, auch kein Spaß“, „Der Flirtstreit“ und „Billioneneier“ teilt Kurzke das Leben des Schriftstellers, der so verbissen darum bemüht war, seinem Leben – politisch und sexuell – eine unerschütterliche „Verfassung“ zu geben, in viele verborgene Lebensdetails auf und verknüpft sie zu einer großen Biographie.

Genau eine solche Biographie hat der Thomas-Mann-Forschung und dem Thomas-Mann-Freund gefehlt. Es war ein Dilemma bislang, daß dem Schriftstellerleben der angemessene Beschreiber fehlte. Peter de Mendelssohn, der der kongeniale Biograph gewesen wäre, starb, nachdem er die Hälfte des Lebens auf 2.000 Seiten auserzählt hatte und sich dann selbst an die Edierung der erst damals freigegebenen Tagebücher Thomas Manns machen mußte. Seine unübertroffene Biographie „Der Zauberer“ blieb Fragment. Vor vier Jahren erschienen zwei größere Biographien, die zwar solide gearbeitet waren, einem aber, wie im Falle Donald A. Praters durch einen buchhalterischen, farblosen Sprachstil und im Falle Klaus Harpprechts durch lästig fingerzeigende, ständig sich selbst als großen politischen Kommentator einbringenden Gestus, das Lesen verleideten.

Kurzke hat, neben einer absolut fundierten Kenntnis des Werks, das ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen den Romanen des Meisters hin und her zitieren läßt und einem schönen, am Beschreibungsgegenstand geschulten Stil, vor allem eine große Liebe zu dem Dichtermenschen, den er beschreibt. Volker Weidermann ‚/B‘Hermann Kurzke: „Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie“. C. H. Beck, 1999. 672 S., 68 DM