„Sehen so Verbrecher aus?“

Die in Orahovac verbliebenen Serben setzen ihre ganze Hoffnung in die Ankunft der russischen KFOR-Truppen. In Malisevo „traut kein Albaner den Russen“   ■  Aus Malisevo Thomas Schmid

Vor dem großen Schützenpanzer, den die niederländischen Soldaten auf dem Hauptplatz von Orahovac aufgefahren haben, steht ein Mädchen im Grundschulalter mit einem Plakat: „We don't like Russia, we like Nato“ – auf englisch, damit es die ganze Welt versteht, denn die Kameramänner von CNN und BBC werden die Botschaft über den Globus verbreiten. Es ist der vierte aufeinanderfolgende Tag, an dem die albanische Bevölkerung der kleinen Stadt im zentralen Hochland des Kosovo demonstriert. An diesem Sonntag sind es etwa zweitausend. Es ist eine friedliche Kundgebung, doch einer trägt eine Pistole im Hosenbund. Daraufhin angesprochen, zückt der junge Mann eilfertig einen in Plastik verschweißten Ausweis der „Joint Implementation Commission“, der ihn zum Tragen der Waffe berechtigt. Der Mann heißt Ismet Tara und ist Kommandant der UÇK-Brigade von Orahovac. Die Entwaffnung der Befreiungsarmee beginnt hier erst am kommenden Samstag.

„Wenn die Russen kommen, gehen die Albaner alle nach Albanien“, meint Tara. Von dort sind die meisten Demonstranten in den letzten Wochen gerade erst zurückgekommen. Daß russische Söldner sich an Massakern beteiligt haben, gilt hier als ausgemachte Sache. Allein in Orahovac seien während der Nato-Bombardierungen rund zweitausend Albaner umgebracht worden, behauptet der Guerillakommandant.

Auch wenn man hier Zahlen mit äußerster Vorsicht genießen muß, so ist davon auszugehen, daß in Orahovac viel Blut geflossen ist. Es war die einzige Stadt, die die UÇK je eingenommen hat. Sie konnte sie allerdings nicht länger als 24 Stunden halten. Das ist genau ein Jahr her. Die Rache kam dann unter den Bomben. „Wir haben der Nato eine unvollständige Liste mit 63 Namen von Personen übergeben, die sich an Massakern beteiligt haben“, sagt Tara. „Die meisten befinden sich noch im Ort und sind bewaffnet.“

Etwa 200 Meter oberhalb des Hauptplatzes steht ein Panzerwagen. Gleich hinter dem Checkpoint der Niederländer beginnt die Belgrad-Straße, die zur orthodoxen Kirche hinaufführt . Das Straßenschild wurde zwar entfernt, aber hier wohnen immer noch die Serben. „Noch ist das Kosovo nicht verloren, wir sind hier in Serbien“, sagt Zivorad Simic trotzig. „Aber wir Serben hier sind wie in einem Gefängnis.“ Von der zwölfköpfigen Gruppe, die sich um ihn schart, wagt sich keiner auf den Hauptplatz hinunter. „Nur die Russen können uns beschützen“, behauptet Simic. Die Holländer seien zwar guten Willens, könnten sich aber gegen die UÇK nicht durchsetzen. 50 serbische Häuser seien abgebrannt und 20 Personen gekidnappt worden, seit die KFOR, die internationale Truppe, einmarschiert sei.

Man lernt hier, den Zahlen zu mißtrauen. Aber fraglos haben Albaner in den letzten Wochen serbische Häuser angezündet. Im vergangenen Sommer wurden in der Stadt ganze albanische Viertel gebrandschatzt. Auf die Frage, ob es denn Massaker an Albanern gegeben habe, faltet Simic nur die Hände und setzt ein breites Lachen auf – was etwa soviel heißt wie: „Sehen wir wirklich wie Verbrecher aus, sehen so Verbrecher aus?“ Nein, sie haben die Gesichter ganz normaler Menschen.

Vielleicht hatte Simic mit den Verbrechen nichts zu tun. Vielleicht doch. Jedenfalls lügt er, wenn er sagt, die Serben hätten kein Brot, keine Milch und kein Fleisch mehr. Oder es lügen mindestens vier Niederländer, die das Gegenteil behaupten und auf die Läden in der serbischen Straße zeigen, in denen jeden Tag just diese Lebensmittel verkauft werden. Und die abgebrannten serbischen Häuser? Haben die beiden Männer in der schwarzen Uniform der UÇK-Polizei, die im Auto vorfahren, Angst, daß Albaner zuviel reden könnten. Weshalb mischen sie sich in ein Gespräch mit zwei Frauen ein und weisen sie an, nicht mit Journalisten zu reden? Die Albanerinnen kommen dem Befehl nach. Sie wollen, wie so viele hier, einfach keinen Ärger.

Die Russen, die sich die Albaner zum Teufel wünschen und von denen sich die Serben so viel versprechen, sind 15 Kilometer entfernt, in Malisevo, gerade angekommen. Im Städtchen befand sich im vergangenen Sommer das Hauptquartier der UÇK. Kämpfe gab es hier keine. Aber nach dem Abzug der Guerilla wurde es von der serbischen Polizei systematisch zerstört. Viele, vielleicht die meisten Einwohner, sind zurückgekommen. Vor zerstörten Geschäften werden Früchte verkauft. Mitten auf der Straße steht ein Leopard-Panzer der Bundeswehr. Zwei russische Soldaten sind auf das Gefährt geklettert. „Man muß den Russen eine Chance geben“, wehrt Oberleutnant Michael Koletzki, stellvertretender Kompaniechef, die Bedenken ab, die Neuankömmlinge könnten für die slawischen Brüder Partei ergreifen und die Entwaffnung von Serben sowie die Auslieferung von Kriegsverbrechern verhindern. Ein Voraustrupp der Russen ist gekommen, um mit den Deutschen über den Ort für die ausgehandelte Stationierung von einigen hundert Soldaten zu beraten.

Auch Gani Krashniqi, der provisorische Administrator von Malisevo, wurde zeitweilig zu den Gesprächen hinzugezogen. „Wir sagten den Russen gleich, sie seien nicht sehr willkommen“, berichtet der Mann, der nach dem Aufstand der Kosovo-Albaner von 1981 zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat. „Aber natürlich haben wir nichts gegen die Russen allgemein.“ Aber russische Söldner, so versichert er, hätten nun mal in den Reihen serbischer Paramilitärs gekämpft. Die UÇK habe sogar einen russischen Offizier getötet. Man habe in der Tasche des Toten russische Dokumente und Rubel gefunden. Das Vorurteil hält sich, auch wenn lediglich feststeht, daß sich Freiwillige aus Rumänien, Bulgarien und der Ukraine in den Dienst der Serben gestellt haben und Waffen über diese Nachbarländer ins Kampfgebiet geschleust wurden.

Es sind nicht die ersten Russen, die in diesen Tagen im Kosovo eintreffen. Mitte Juni, noch bevor die ersten Nato-Truppen der KFOR einmarschierten, zogen völlig überraschend 200 russische Soldaten durch Priština, ließen sich von den Serben überschwenglich feiern und besetzten den Flughafen von Priština. In Kosovo Polje, das vorwiegend von Serben bewohnt wird und wo vor 610 Jahren die historische Schlacht auf dem Amselfeld stattfand, sind inzwischen ebenfalls Russen stationiert.

Am Samstag trafen zudem 86 russische Soldaten in Kosovska Kamenica ein. Aber jetzt sollen zum ersten Mal Russen im hauptsächlich von Albanern bewohnten Kernland des Kosovo zum Einsatz kommen. So folgt nun Malisevo dem Beispiel von Orahovac. Doch scheint eine Stationierung russischer Soldaten in der Gemeinde, die vor dem Krieg zu 99 Prozent und heute zu 100 Prozent albanisch besiedelt ist, weniger problematisch als in Orahovac, wo eine starke serbische Minderheit lebt. Würden dort tatsächlich Russen eingesetzt, besteht die Gefahr, daß sie für die Serben zuständig würden und die Holländer für die Albaner. Die Spaltung der Stadt würde zementiert. Verhielten sich die Russen hingegen kooperativ, wäre das auch eine Chance für ein künftiges Zusammenleben. „Doch hier“, hatte der UÇK-Kommandant Ismet Tara gesagt, „traut kein einziger Albaner den Russen. Nicht einer.“