Auf dem „Dritten Weg“ in Belgiens Zukunft

■ Obwohl ein Vielparteiensammelsurium, ist die neue Regierung nicht ohne Aussicht auf Erfolg. Nach mehr als 60 Jahren sitzen die Christdemokraten erstmals in der Opposition

Brüssel (taz) – Die vom belgischen König Albert II. gestern vereidigte liberal-sozialistisch-grüne Regierung Belgiens steht mit ihrem neuen Chef, Guy Verhofstadt, vor schwierigen politischen Aufgaben. Nachdem der bisherige christdemokratische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene (CVP) in Folge des Dioxinskandals bei den Wahlen des Landes eine schwere Niederlage hinnehmen mußte, bildete Liberalenchef Verhofstadt in Rekordzeit eine neue Regierung. Mitglieder im Kabinett sind unter anderem der Liberale Marc Verwilghen, der in der Kinderschänder-Affäre um Marc Dutroux die juristische Aufklärung leitete, und Magda Aelvoet von den flämischen Grünen. Sie hatte den Stimmenanteil ihrer Partei bei den Wahlen nahezu verdoppeln können. Während Aelvoet das in Belgien sensible Ministeramt für Volksgesundheit übernimmt, das im Dioxinskandal Informationen zurückgehalten hatte, leitet Verwilghen das Justizministerium, das trotz der Dutroux-Aufklärung immer noch als undurchsichtige Behörde gilt. Sechs flämische und wallonische Parteien sitzen in der Regierung, sieben Ministerposten hat der neue Premier für seine flämischen Neoliberalen und die wallonische Schwesterpartei gesichert, darunter die Außen-, Innen, Finanz-, Landwirtschafts-, Telekom- und Handelsressorts.

Belgische Blätter kritisierten gestern bereits die wallonische Dominanz bei der Postenverteilung. LaLibre Belgique sprach von einem Skandal. De Morgen hingegen lobte Verhofstadts Verhandlungsgeschick und betonte, daß erstmals seit 1937 die Liberalen den Weg an die Macht fanden. Auch die Sozialisten erhielten zentrale Ämter, unter anderem das Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Arbeitsministerium. Die Grünen, die auch das Verkehrsministerium und das Energiestaatssekretariat leiten werden, zeigten sich gestern zufrieden. Unzufriede Gesichter machten jedoch einige wallonische Mitstreiter von „Ecolo“, die sowohl in Atomfragen als auch bei der Energiesteuer schärfere Forderungen gestellt hatten.

Der Regierungschef, der mit Margret Thatcher als Vorbild zunächst politisch erfolglos blieb, sieht jetzt in Tony Blairs „Drittem Weg“ die politische Zukunft. Der früher als kompromißlos bekannte Jurist und Ex-Minister gilt inzwischen als „gereift“, wie die Belgier sagen. Zu seinem Regierungsprogramm gehören für den 46jährigen Verhofstadt neben einer durchschaubareren Verwaltung die Reduzierung der Arbeitslosigkeit und eine Reform der Sozialversicherung. Auch für mehr Transparenz und Bürgerrechte will der Premier sorgen, ein Anliegen, daß er bereits Anfang der 90er Jahre propagierte.

Trotz der Dissonanzen zwischen den flämischen und den wallonischen Grünen aufgrund des langfristig ausgehandelten Atomausstiegs mit 40 Jahren Reaktorlaufzeiten akzeptierten die Unterhändler um Magda Aelvoet den Koalitionsvertrag. Anders als in der Bundesrepublik werden sich die Grünen stärker auf das Wahlrecht für Migranten und die Müllpolitik in Belgien konzentrieren, was die Anzahl an Koalitionskrisen mindern dürfte. Das Sechsergespann soll nach Verhofstadts Regierungsprogramm auch mit der Senkung der Einkommenssteuer beginnen, mit der die Bürger über rund vier Milliarden Mark mehr verfügen würden. Die staatlichen Mindereinnahmen will die Koalition durch Verkäufe verlustreicher Staatsbetriebe meistern. Da auch die Verkehrsbetriebe, die die Grünen fördern wollen, Probleme bereiten, könnten sich hier Konflikte ergeben. Dennoch hat die Umweltpartei gute Aussichten, sich mit der Überwindung der Dioxinkrise zu profilieren. Verhofstedt muß auch dringend Finanzhilfen für die Bauern aushandeln, die in Folge der vergiefteten Lebensmittel hohe Absatzverluste hinnehmen mußten.

Peter Sennekamp