Heimat ist auch jenseits der Brücke

Kosovska Mitrovica ist eine geteilte Stadt. Die Brücke über die Ibar verbindet den serbischen Nordteil mit dem albanischen Südteil. Aber ohne KFOR-Eskorte traut sich kaum jemand auf die andere Seite  ■   Aus Kosovska Mitrovica Thomas Schmid

Selten rollt ein Auto über die Brücke im Zentrum von Kosovska Mitrovica, einer der größten Städte des Kosovo. Nur wenige Fußgänger benutzen sie, um vom einen in den andern Stadtteil zu gelangen. Jenseits der Brücke sitzen zwei Dutzend Männer auf kleinen Holzstühlen, hintereinander in drei Reihen, und schauen herüber. Es seien serbische Paramilitärs und Polizisten, behaupten die Albaner, die sich in Trauben diesseits der Brücke vor den Panzern der Franzosen versammeln. Vor wenigen Wochen noch hätten dieselben Männer, die jetzt genau kontrollierten, wer zu Fuß oder mit dem Auto den Stadtteil wechselt, Uniform und Gewehr getragen: Kiti, Ratko, Dejan, Boban, ihre Namen sind hier allen bekannt.

Die Ibar, die die Stadt von West nach Ost durchfließt, teilt die Stadt in zwei Hälften. Im nördlichen Stadtteil, der vor dem Krieg gemischt besiedelt war, leben, von etwa hundert albanischen Familien abgesehen, nur noch Serben. In den südlichen Teil, wo schon immer überwiegend Albaner und Roma wohnten, sind Tausende vertriebene Albaner zurückgekehrt. Serben sind hier nur ganz vereinzelt geblieben.

Die Serbin Lucia Spahic wohnt im Nordteil, hat aber ihr Fotogeschäft im albanischen Südteil der Stadt, zum Glück gerade an der Brücke, wo die Franzosen stehen. Sie zeigt Fotos, die sie gemacht hat, „weil das alles so verrückt ist“.

„Hängen sollte man sie alle, ja, aufknüpfen“

Die Fotos zeigen einen Demonstrationszug von einigen tausend Albanern, der auf beiden Seiten von schwerbewaffneten Franzosen eskortiert wird und sich über die Brücke in den serbischen Nordteil bewegt. „Wir wollten gemeinsam nach unseren Wohnungen schauen“, sagt Njomza, die mitmarschiert ist, „wir wollten sehen, ob sie geplündert sind.“ Die junge Albanerin wohnt im Südteil der Stadt, hat aber eine Tante, einen Onkel und einen Großvater im Nordteil. Besuchen können wir ihre Verwandten nicht, „weil sie sonst Ärger mit den Männern jenseits der Brücke kriegen“.

Zu diesen Männern, die den ganzen Tag auf ihren Stühlen sitzen, hat sich eine betagte Frau gesetzt, wie die meisten Serbinnen ihres Alters von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Es ist Desa Jovanovic. Nachdem sie am dritten Tag hintereinander mit Steinen beworfen worden sei, berichtet sie, habe sie ihr Haus auf der albanischen Seite aufgegeben. Über 70 Jahre habe sie auf dem Buckel, und nun sei sie obdachlos. Die alte Frau schluchzt und wischt sich verschämt einige Tränen weg.

Zur Gruppe gesellt sich Hasan Esedi. Der Rom, der eine verschlissene Jacke und einen Plastikbeutel mit Schläuchen, Gummis und Eisenteilen mit sich trägt, hat 32 Jahre die Straßen der Stadt gereinigt. Nun ist sein Haus im Südteil der Stadt von Albanern abgefackelt worden, und er lebt mit seiner siebenköpfigen Familie und einer Pension von umgerechnet 25 Mark in einem Keller auf der andern Seite des Flusses. Miloševic sei ein kluger Mann und auf jeden Fall unschuldig, behauptet er und schimpft wie ein Rohrspatz auf die Albaner: „Hängen sollte man sie alle, ja, aufknüpfen.“

Der Gynäkologe Sali Haxhiu verlor 1992 wie fast alle albanischen Ärzte seinen Job im Krankenhaus, das im Nordteil der Stadt liegt. Vor drei Tagen ist er mit den ersten damals entlassenen Ärzten zurückgekehrt. Und just seit drei Tagen gibt es kein fließendes Wasser mehr im Krankenhaus. An einen Zufall mag er nicht glauben. „Die Serben haben Röntgenapparate zerschlagen“, sagt er, „und die serbische Oberschwester rückt den Schlüssel zum Medikamentenschrank nicht raus.“

Haxhiu hat eine wahre Odyssee hinter sich. Als die Nato die ersten Bomben abwarf, hätten die Serben Listen mit Namen der Angehörigen der örtlichen Elite erstellt, die liquidiert werden sollten. Sein Name habe da weit oben gestanden, obwohl er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sehr viele serbische Patienten privat behandelt habe. So habe er, sagt er, seine Wohnung im Nordteil der Stadt beizeiten verlassen, um im albanischen Viertel Tamnik unterzuschlüpfen.

Als der Stadtteil von schwerer serbischer Artillerie beschossen wurde, kehrte er in die alte Wohnung zurück, bis maskierte Paramilitärs anrückten und seine Nachbarn und dessen Frau ermordeten. Er floh nach Smrekonica zu seinem Vater. Anfang Mai wurde das ganze Dörfchen von maskierten Serben aufgefordert, nach Albanien abzuhauen. Haxhiu verließ den Flüchtlingstreck, verbrachte fünf Tage in einem Dorf, das von der UÇK gehalten wurde, und schlug sich in tagelangen Märschen allein zu Fuß nach Smrekonica zurück, wo er bis zum Einrükken der internationalen KFOR-Truppe ausharrte.

Der Serbe Vladimir Hadžic ist Orthopäde und behauptet, die Albaner hätten dem Krankenhaus das Wasser abgedreht. Seine Wohnung im Südteil der Stadt habe er verlassen, als ein Albaner, dessen Tochter er vor dem Tod gerettet habe, an die Tür geklopft und ihn zum Verschwinden aufgefordert habe. In seiner Abteilung sei nur ein Albaner verblieben, und „der ging dann im März auch aus Angst vor den Nato-Bomben“. Auf die Frage, wie viele albanische Ärzte denn schon zurückgekommen seien, meint Hadžic nur: „Genug.“ Während des Gesprächs sind vier Militärlastwagen der französischen Armee vorgefahren. Jeden Tag um 14 Uhr werden 165 albanische Mitarbeiter des Krankenhauses über die Brücke in den Südteil der Stadt gefahren. Der alte Sali Haxhiu ist auf die Ladefläche geklettert. Morgen um neun Uhr früh wird er wieder vor dem Krankenhaus ausgeladen.

Die Franzosen sorgen für die Bewegungsfreiheit aller. Unter ihrem Schutz demonstrieren Albaner, werden Ärzte zu ihrer Arbeitsstelle befördert und gehen serbische Gläubige in die Kirche. Das einzige orthodoxe Gotteshaus steht nämlich ausgerechnet im Südteil der Stadt. Es ist der Tag der Toten, und auf der Hauptstraße im albanischen Teil steht alle 50 Meter ein KFOR-Soldat mit dem Gewehr im Anschlag. Von Radpanzern begleitet, erreicht ein Bus mit Gläubigen die Kirche. Nach dem Gedenkgottesdienst hält Mati Makarija, Chemielehrerin und Nonne, eine Pressekonferenz. „Die Heimat der Serben ist da, wo die Knochen ihrer Ahnen liegen“, beginnt sie. Ansonsten aber meint sie, daß im Kosovo auch Platz für die Albaner sein müsse. An der tragischen Situation der Provinz trügen beide Seiten Schuld. Dann zählt sie auf, was die Albaner den Serben alles angetan haben. „Wer hat die Moschee bei der Brücke bis auf die Grundmauern zerstört?“, will ein Journalist wissen. „Wissen Sie, was im Kloster Devic passiert ist?“ fragt die gebildete Nonne zurück. Dort hat die UÇK serbische Nonnen bedroht, möglicherweise zur Entkleidung gezwungen. Mußte deshalb die Moschee zerstört werden? Oliver Ivanovic, der so etwas wie der Führer der Serben von Mitrovica ist und neben der Nonne Platz genommen hat, meint, die alte Moschee sei möglicherweise zusammengebrochen, als die Nato das Hauptquartier der Polizei zerbombte. Dieses liegt 200 Meter vom muslimischen Gotteshaus entfernt. Die Gebäude dazwischen stehen alle noch.

Oliver Ivanovic sei nichts weiter als der Führer einer paramilitärischen Truppe und gehöre vor ein Kriegsgericht, meint Bayram Rexhepi. Der Arzt, der schon 1991 als erster Albaner aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ist anerkannter Führer der albanischen Mehrheit von Mitrovica und nennt sich heute „provisorischer Administrator“. An Rexhepis „Amtsgebäude“ hängt eine UÇK-Fahne, und während des Gesprächs kommt auch Rahman Rama, einer der sieben obersten Kommandanten der Befreiungsarmee, herein. Der Chirurg hat im vergangenen Jahr in versteckten UÇK-Kliniken viele verletzte Kämpfer operiert. Für die serbische Justiz war das schlicht Beihilfe zum Terrorismus. Wenige Wochen bevor die ersten Nato-Bomben fielen, floh er aus Sicherheitsgründen zur UÇK, und mit ihren Truppen zusammen überlebte er den Terror der serbischen Soldateska in den Wäldern, bis die KFOR-Truppen einmarschierten.

Rexhepi ist ein besonnener, zurückhaltender Mensch. Er sei von niemandem legitimiert, eine Administration aufzubauen, sagt er, aber es gebe nun mal viele Probleme anzupacken. Im Flur warten immer Leute. Alle wollen ihre Probleme dem Arzt persönlich vortragen, erhoffen sich Hilfe oder wenigstens einen Rat. Nein, er wolle auf keinen Fall in die Politik einsteigen, behauptet er, sobald geregelte Verhältnisse eingekehrt seien, werde er sich zurückziehen.

Ein Zusammenleben mit den Serben werde auf jeden Fall schwierig sein, meint Rexhepi zum Abschied, aber ohne die Entwaffnung und Festnahme derjenigen, die für Mord und Vertreibung verantwortlich waren, sei eine gemeinsame Zukunft nicht vorstellbar. Weshalb die früheren Paramilitärs an der Brücke sitzen und die Albaner einschüchtern können, ist ihm ein Rätsel. Daß die Albaner ihrerseits das ganze Roma-Viertel gebrandschatzt haben, findet er zwar verständlich – „die Roma haben als erste die Häuser der vertriebenen Albaner geplündert“ –, aber „absolut inakzeptabel“.

Die Franzosen sorgen für die Bewegungsfreiheit aller

Philippe Tanguy, Presseoffizier des französischen KFOR-Kontingents vor Ort, meint, die Zerstörung des Roma-Viertels und die Vertreibung seiner Bewohner sei nicht zu verhindern gewesen: „Die kleinen Häuser, windschief, viele baufällig, sind ja Wand an Wand gebaut, da greift das Feuer schnell über.“ Aber das Viertel wurde an sieben einander folgenden Tagen in Brand gesteckt. Weshalb haben die französischen Soldaten nicht nach dem zweiten Tag oder wenigstens nach dem dritten das Viertel abgesperrt und weitere Brandschatzungen verhindert? „Unsere erste Aufgabe ist es, Leben zu retten“, verteidigt sich der Presseoffizier. „Erst dann kommt der Schutz von Hab und Gut.“

Einen Anlaß, die Sitzgruppe von Serben am andern Ende der Brücke aufzulösen und dort einen Posten aufzuziehen, sieht Tanguy nicht. „Wir wollen Bewegungsfreiheit in der ganzen Stadt“, betont er. Französische Gendarmen begleiten in der Tat eingeschüchterte Albaner mitunter auf die andere Seite. Doch heute abend ist die Lage gespannt. Albanische und serbische Männer stehen nur noch einen Steinwurf entfernt voneinander. Französische Panzerwagen stellen sich zwischen die Fronten. Eine mutige Albanerin versucht, sich an ihnen vorbei auf die serbische Seite zu schleichen. Sie wird von aufgebrachten serbischen Frauen zurückgedrängt. Die Franzosen schießen – in die Luft. Die Ruhe an der Brükke ist wiederhergestellt.