■ Was lehrt der Kosovo-Krieg? (2) Auf dem Balkan hat der Westen den Krieg gewonnen, nicht aber den Frieden
: Der Lorbeer welkt

Die Schätzungen beginnen sich einzupendeln: An die hundert Milliarden Mark dürfte die Kosovo-Intervention verschlungen haben – die Nato-Einsatzkosten, die Kriegszerstörungen und die bezifferbaren Folgeschäden für die Wirtschaft der Region zusammengerechnet. Bei der Opferstatistik wird noch ermittelt. Alle Beteiligten geben sich wortkarg. Eine fünfstellige Zahl als Summe der Kriegstoten scheint der Wahrheit am nächsten zu kommen. Haben sich Aufwand und Opfer des Krieges letztlich gelohnt?

Die Flüchtlinge sollen in ihre Heimat zurückkehren und dort vor neuer Verfolgung sicher sein. So hat es die Nato zugesagt. Sie wird ihr Versprechen halten können. Ehe der nächste Winter hereinbricht, werden die meisten Geflohenen wieder im Kosovo leben und dort ein zumindest provisorisches Unterkommen finden. Wo nötig, übernimmt der internationale Apparat ziviler Hilfsdienste die Versorgung. Die KFOR hält die schützende Hand darüber. So weit, so gut. Angesichts der Tatsache, daß noch vor Monatsfrist die Balkanprovinz zur Hälfte entvölkert war und fast eine Million Menschen notdürftig außer Landes kampierten, ist das kein geringer Erfolg. Er verdient Respekt.

Bezieht man allerdings die Vorgeschichte des Krieges mit ein, so fällt die Rechnung ganz anders aus: Dank des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR ist die Abfolge der Vertriebenenströme sorgsam dokumentiert. Danach passierten vier von fünf Kosovo-Albaner, die in den Nachbarländern lebensrettende Zuflucht suchten, nach dem 24. März 1999, dem Tag des Beginns des Kriegs gegen Jugoslawien, die Grenzen, nämlich 779.000 von 950.000. In den vorangegangenen zwölf Monaten der Kämpfe ohne Nato-Beteiligung waren es 171.000 Menschen, die aus dem Kosovo flohen, rund 14.000 im Monatsdurchschnitt.

Zwischen Flucht und Vertreibung mag oft nur ein abstrakter Unterschied bestehen. Ohne Not verlassen kaum ganze Familien und Dorfgemeinschaften Haus und Hof. Dennoch sprechen die Zahlen für sich. Während der gesamten Kosovo-Krise seit dem Frühjahr 1998 überstieg die Fluchtbewegung nicht die aus vielen vergleichbaren Bürgerkriegsgebieten bekannte Größenordnung. Von einer systematischen Vertreibung der Bevölkerung hat damals kein westlicher Politiker geredet, und die nachträglich „entdeckten“ Belege sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Exakt mit dem ersten Raketeneinschlag in Belgrad begann der Massenexodus. Man müßte blind sein, den ursächlichen neben dem zeitlichen Zusammenhang nicht zu erkennen. Die nunmehr planvoll mißhandelten und verjagten Kosovo-Albaner wurden zu Opfern einer enthemmten Vergeltungswut ihrer Peiniger. Sie, die Albaner, waren es in serbischer Sicht, die die Bomber herbeigerufen hatten.

Die mächtigste Militärallianz der Geschichte schmückt sich mit welkem Lorbeer. Ein Übel zu beheben, das man zum ganz überwiegenden Teil selbst ausgelöst hat, ist ein zweifelhaftes Verdienst. Weder rechtfertigt es den elfwöchigen Zermürbungskrieg gegen eine wehrlose Bevölkerung, noch hilft es der erstrebten Rolle als Friedensstifter auf dem Balkan. Einmal mehr erweist sich, daß ein Sieg auf dem Schlachtfeld nicht automatisch zum Frieden führt. Im Kosovo gehen Unterdrückung, Plünderung, Brandschatzung weiter, nur daß die Opfer von gestern die Täter von heute sind.

Auch diese Misere wird man den Interventionsfolgen zurechnen müssen. Im Rambouillet-Vertrag war ein schrittweiser Neubau des Gemeinwesens von unten nach oben vorgesehen. Die alten Gewalten sollten weichen, sobald die neuen installiert wären. Mit dem zwangsweisen Abgang des serbischen Personals hat sich der Überleitungsplan erledigt. Vom Einwohnermeldewesen bis zur Postzustellung ist die administrative Infrastruktur beseitigt. In das Vakuum drängt die UÇK als die vorerst einzige bodenständige Kraft von politischer Autorität. Für die Nato folgt daraus zweierlei. Sie kann ihr propagiertes Konzept ethnischer Koexistenz abschreiben. Dennoch bleibt sie als Besatzungsmacht an die Provinz gekettet, zum einen zur Abschrekkung Belgrader Rückeroberungsversuche, zum anderen, um ehrgeizige Wünsche nach Befreiung weiterer Albaner jenseits des Kosovo zu entmutigen. Für alle offenen Probleme des Balkans haben sich die Lösungsbedingungen nicht gebessert, sondern verschlechtert. Die wirtschaftliche Konsolidierung der Region muß heute auf einem viel niedrigeren Niveau ansetzen. Soweit die unmittelbaren Kriegsschäden internationale Verkehrswege und Außenhandelsunternehmen betreffen, leiden die jugoslawischen Anrainerstaaten nicht weniger darunter als das zerbomte Land selbst. Sie werden dem Ausschluß Jugoslawiens von Wiederaufbauhilfe nur begrenztes Verständnis entgegenbringen. Unklar bleibt ferner, welche Idee von Stabilität sich hinter der magischen Formel des Stabilitätspakts verbirgt. Gilt die Montenegro in Aussicht gestellte Vorzugsbehandlung einem weiteren Abspaltungskandidaten? Folgt dann die Wojwodina und als nächstes der Sanžak? Soll sich eines Tages ein serbischer Rumpfstaat auf das Belgrader Umland beschränken? Das sind die Fragen, die jetzt nicht nur für das Regime Miloševic, sondern auch für jede oppositionelle Gruppierung von Belang sind.

Ein militärischer Sieg, der den Frieden verfehlt, macht die Frage unausweichlich: Ging es überhaupt um die proklamierten Ziele? Allen amtlichen Beteuerungen zum Trotz hat es ja an politischen Alternativen zum Waffengang nie gefehlt – nicht im Herbst 1998, als die diplomatische Umsetzung der Holbroooke-Miloševic-Übereinkunft unterblieb, nicht im Februar 1999, als die Grundsatzeinigung über eine neue Verfassung für das Kosovo bereits unter Dach und Fach war. Gelegenheiten kamen und gingen, wurden verworfen oder blieben ungenutzt.

Es ist unerheblich, ob die Nato diesen Krieg wirklich wollte oder ob sie ihn nur der Gesichtswahrung wegen am Ende nicht mehr zu vermeiden wußte. Sie hat ihn geplant, im Übermaß angedroht und schließlich geführt. Das ist es, was zählt. Nicht das Völkerrecht, nicht das Verständnis der Menschenrechte ist im Wandel begriffen, wie uns glauben gemacht wird, sondern der veränderte Auftrag an ein militärisches Bündnis hat sich durchgesetzt. Die Demonstration ist programmatisch begründet, also wiederholbar, wenn „unsere gemeinsamen Sicherheitsinteressen und Werte“ betroffen sind (Rudolf Scharping). Die für niemanden mißverstehbare Botschaft sagt, wer in Europa Ultimaten setzt und wessen Weisungen gefolgt werden muß. Europäische Sicherheit gehorcht wieder den Regeln der freien Wildbahn. Reinhard Mutz

Laut UNHCR flohen vier von fünf Kosovo-Albanern nach KriegsbeginnDie wirtschaftliche Konsolidierung muß auf viel niedrigerem Niveau ansetzen