Blute dich frei!

Zwischen Mysterienspiel und Wet-T-Shirt-Contest: Christina Emig-Könning verspektakelt Weiss in Rostock  ■   Von Hartmut Krug

Marat sitzt auf einer Schaukel und läßt sich ins Sicherheitsnetz fallen, das über das Sprungbecken gespannt ist. Auf der anderen Seite der Neptun-Schwimmhalle sitzt de Sade auf einem Thron, der einem Sportrichterhochstuhl ähnelt. Hinter ihm dröhnt die Rockband The Jack of all Trades, und vor ihm fährt das Floß der Medusa hin und her. Das Volk, von den beiden revolutionären Denkern und intellektuellen Gegnern angetrieben und aufgeputscht, belehrt und agitiert, ist auf und im Wasser auf einer Zeitreise durch die erlebte Geschichte.

Das Volkstheater Rostock ist zum zweiten Mal (nach einem eher unspektakulären Brecht-Programm) in die riesige Neptun-Schwimmhalle gezogen. Vier Schauspieler und elf Schauspielstudenten nehmen sich hier Peter Weiss' sinnliches Denkstück über revolutionäres Handeln vor. „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ spielt in der Badeanstalt eines Irrenhauses und zeigt, wie dessen Insassen unter Anleitung ihres sie drangsalierenden Direktors revolutionäre Positionen vor adligem Publikum durchspielen.

Bei Weiss kapieren die Irren durch das Spiel ihre unmündige Situation und rebellieren, bei der Rostocker Regisseurin Christina Emig-Könning endet die Rebellion im Dunkeln eines allgemeinen Kampfes, an dessen Ende das fragende Wort „Selbst-Mord“ steht. Die Regisseurin interessiert weniger die Gegenüberstellung zweier revolutionärer Positionen (de Sades individualistische und Marats dem kollektiven Handeln verpflichtete). Sie werden zwar herausgeschrien, ausgestellt und zitiert, doch mehr wie therapeutische Anregungen.

Es geht um die Psychologie der Macht und der Massen. Wir sehen, wie das Volk aufgeputscht oder in Ruhe gehalten wird, wie es in Abhängigkeit oder zu sinnloser, äußerlicher Aktivität gebracht wird. Dabei schüttet diese Inszenierung das Volk im Spiel und auf den Zuschauertribünen mit Effekten und Bildern geradezu zu. Mit Werbevideos und Talkshowsequenzen auf riesiger Leinwand, mit Liveaufnahmen durch einen ABM-Filmer, der vom Beckenrand mitten ins heftigste Geschehen hält, wird das revolutionäre analytische Denkspiel von Weiss in die nachrevolutionäre Gegenwart verlängert. Langzeitarbeitslose sollen es laut Regiekonzept sein, die da zwischen Feuer und Wasser, in dünnen, nach dem ersten Sprung ins Becken den Voyeurismus der Zuschauer bedienenden Shirts mit expressivem Körperspiel wie im rasend fließenden Stillstand agieren. Ein Volk auf dem Floß der Geschichte, im Fluß der Zeit, im Kampf um die eigene Identität. Ein ungeheures Spektakel, ein lärmender Abgesang auf ein gewalttätiges Zeitalter: die Schwimmhalle ein wassergefülltes Körpergefängnis, Ort für Reinigung und Wiedergeburt.

Die Inszenierung ist gleichermaßen ein intellektuelles wie sportives Ereignis, doch sie ermüdet ihr Publikum auch schnell mit ihrer brachialen Spielweise und den zu einer wahren Bildersuppe zusammengerührten Szenen. Regisseurin Christina Emig-Könning, die mit ihrer ganz auf ein junges Publikum zielenden auftrumpfenden Ästhetik bereits „Macbeth“ in einer Kirche und „Trainspotting“ auf dem als alternativer Kulturszenetreff dienenden Fischtrawler „MS Stubnitz“ inszeniert hat, vermag diesmal die Effekte ihres Inszenierungsstils nicht zu effektivem Wirkungsspiel zusammenzufügen: Das Geschehen dröhnt und tobt sich schnell leer.

Schade, denn die Regisseurin, zwischenzeitlich auch Schauspieldirektorin in Rostock, hat es verstanden, das unter notorischem Publikumsmangel darbende Volkstheater Rostock hinaus aus den Theatergebäuden hin zu einem jungen, studentischen Publikum zu führen.

Das Rostocker Theater leidet nämlich noch immer unter seiner scheinbar so erfolgreichen Vergangenheit. Hanns Anselm Perten, Regie- und Intendantenpotentat mit Sitz im ZK, hatte das Volkstheater mit einer realsozialistisch engagierten Mischung aus DDR-Dramatik und engagierter sozialkritischer Dramatik von Albee über Weiss bis Kipphardt zu auch internationalem Ansehen gebracht. Doch nach der Wende blieb das Publikum fern. Erst seit anderthalb Spielzeiten ist mit dem nicht selbst Regie führenden Michael Schlicht ein Intendant im Amt, der mit viel Geschick ein mehrheitsfähiges Theater zu schaffen versucht. Dafür hat er sich mit dem in Cottbus, am Berliner Ensemble und in Schwerin erprobten chilenischen Regisseur Alejandro Quintana einen Schauspieldirektor geholt, der mit seinem poetisch-realistischen Theaterstil bis vor 17 Jahren (mit seinem „teatro lautaro“, das er als Exilant am Volkstheater einrichtete) in Rostock Furore machte. Mit einem Molièreschen „Tartuffe“ und einer Dramatisierung von Gabriel Garcia Marquéz' großem Epos „Hundert Jahre Einsamkeit“ eroberte sich der Regisseur Quintana sein Publikum; jetzt hat er im Theater im Stadthafen Lorcas „Dona Rosita bleibt ledig“ als einen herben poetischen Traum inszeniert. Dieses Theater, neu eingerichtet in einem ortstypischen Klinkerbau, in dem zuvor die Hafenverwaltung Büros betrieb, ist das Kammerspielgebäude mit klassischem Guckkasten des Volkstheaters.

Zwischen den Spektakeln der Christina Emig-Könning für ein junges und den poetischen Erkundungen des Alejandro Quintana für ein breites Publikum hat Intendant Michael Schlicht mit dem Dramatiker und Regisseur Daniel Call einen Mann engagiert, der mit Stück-Werk-Verträgen ein am Fernsehserienkitsch geschultes Publikum binden mag. Nicht alles ist spektakulär, was das Rostocker Theater versucht. Doch die spielerische Ernsthaftigkeit, mit der sich das Volkstheater an sein gesuchtes Publikum wendet, sie macht Eindruck.