Die Fischdiebe

Vor der portugiesischen Hafenstadt San Setúbal kreuzen Große Tümmler mit trauriger Geschichte  ■   Von Monika Rößiger

Am späten Nachmittag, als die Sonne schon tief am Horizont steht und das Meer glitzert und funkelt, durchbrechen die ersten Rückenflossen die gekräuselte Wasseroberfläche. Zwischen dem Leuchtturm und einer Sandbank schwimmen zehn bis fünfzehn „Große Tümmler“ in eleganten Sinuskurven auf und ab. Ihre schwarzglänzenden Leiber reflektieren das Sonnenlicht. Wer die Delphine beobachten will, muß sich gedulden. Manchmal stundenlang, manchmal vergeblich. Doch wenn sie endlich auftauchen, dort, wo der Sado-Fluß in den Atlantik mündet, vergißt man über dem schönen Anblick das Warten.

Fast jeden Tag ziehen die Delphine zur Nahrungssuche in den Fluß, wobei man sie vom Strand oder von der Autofähre aus beobachten kann. Mit Geduld, Glück und einem Fernglas sieht man prächtige Hochsprünge: Manchmal schnellen zwei Tümmler aus entgegengesetzter Richtung aufeinander zu, so daß sich ihre Sprungbahnen in der Luft kreuzen. Die perfekte Synchronisation der Tiere verblüfft die Zuschauer, es wirkt wie eine Art Delphinshow in freier Wildbahn.

Jedes Kind in der Hafenstadt Setúbal, 40 Kilometer südlich von Lissabon, kennt die Tümmler des Sado-Flusses. Die Setúbaler nennen ihre Delphine traditionell „roazes“ statt „golfinhos“, dem portugiesischen Wort für Delphine. Roaz bedeutet „ein Tier, das nagt.“

Der Begriff stammt aus der Zeit, als die Fischer noch mit Baumwollnetzen zum Fang ausfuhren, die nicht selten von Delphinen aufgebissen und geplündert wurden. Damals war die Sado-Mündung reich an Fischen, Schalentieren und Tintenfischen. Die in der Gezeitenzone liegenden, einstmals ausgedehnten Salzmarschen waren als Kinderstube der Meerestiere naturgemäß von großer biologischer Produktivität. Auf den Sandbänken häuften sich die Austern – ein üppiges Buffet für Mensch und Tier, an dem sich Fischer und Delphine gleichermaßen bedienten.

Die Tümmler aber machten sich den Nahrungserwerb im Schlaraffenland allzu leicht: Sie folgten den zum Fang ausfahrenden Booten und warteten geduldig, bis die Netze voll waren. Dann rissen sie die Netze einfach auf und fraßen sich satt. Und satt waren sie bei ihrem legendären „katholischen Appetit“ – so die Fischer – meist nicht, bevor die Netze leer waren. Die geprellten Fischer nahmen blutige Rache: Bei ablaufendem Wasser umzingelten sie die Delphine in einer seichten Zone und schlugen sie mit Knüppeln tot.

Wie viele sie einmal waren, weiß kein Mensch, niemand machte sich die Mühe, sie zu zählen. Bereits 1863 berichtete der portugiesische Naturalist Bocage über die Delphine. Das Interesse der Wissenschaft erwachte allerdings erst 1981, als die Population bereits drastisch geschrumpft war. Über 40 Tümmler konnten die Biologen Manuel dos Santos von der Universität Lissabon und Manuel Lacerda vom Meeresmuseum in Cascais seitdem anhand der Rückenflossen – der „Finnen“ – fotografisch identifizieren.

Der Auftritt der Großen Tümmler im Rio Sado ist trotz verringerter Besetzung ein Spektakel. Auf der Jagd nach Tintenfischen, Sardinen, Meeräschen zerstreuen sich die Delphine in kleinen Gruppen. Erbeutet einer von ihnen einen Sepien-Tintenfisch, schlägt er ihn solange auf die Wasseroberfläche, bis sich der ungenießbare Rückenschulp – bekannt als Wetzstein für Wellensittiche – vom Tintenfischkopf ablöst. Wenn die kooperativen Jäger einen Fischschwarm einkreisen, sieht man die aufgeschreckten Fische durch die Luft springen und ihre Räuber – nach ihnen schnappend – hinterher. An den achtarmigen Octopus-Tintenfisch wagen sich die gewitzten Flipper aber nicht heran. Manuel dos Santos erzählt von einem Ereignis, das den Grund dafür erklären könnte: „Einmal tauchte nicht weit von unserem Boot ein Delphin auf, mit einem großen Kraken zwischen den Zähnen. Er wollte ihn wie eine Sepie aufs Wasser schlagen, doch der Krake wußte sich äußerst effektiv zu verteidigen. Einige seiner Arme wanderten über den Delphinkopf zum Blasloch hin und verstopften es. Vor Schreck lockerte der Delphin seine Kiefer, der Achtarmige schwang sich auf den Kopf des Angreifers und saugte sich dort fest. Der Delphin geriet in Panik und tobte in wilden Sprüngen hin und her, bis er den Kraken abgeschüttelt hatte.“

Heute gibt es angeblich keine Konfrontation mehr zwischen den Fischern und ihren Nahrungskonkurrenten. Die Delphine weichen Fischkuttern und anderen kleinen Booten strikt aus; die jetzt üblichen Nylonnetze könnten sie ohnehin nicht „aufnagen“. Riesentanker, mit denen die Tümmler offenbar keine negativen Erfahrungen verbinden, eskortieren sie auf der Bugwelle reitend.

Was den ehemals verfeindeten Parteien gleichermaßen Schwierigkeiten bereitet, ist die knapper werdende Nahrung wegen Flußverschmutzung und Überfischung. Den Rio Tejo bei Lissabon mußten die Delphine schon in den sechziger Jahren verlassen: zuviel Schiffsverkehr, zuviel Dreck. Im Rio Sado dagegen manövrieren sie tapfer zwischen Autofähren, Motorschnellbooten, Segelyachten und Supertankern aus aller Welt. Immerhin, eine Folge der Flußverschmutzung, meistern die Delphine sogar spielerisch – zur Freude der Wissenschaftler, die dieses Verhalten in freier Wildbahn noch nicht beobachtet hatten – Heerscharen von Quallen, manche groß wie Kohlköpfe. Mit einem kräftigen Hieb der Schwanzflosse schleudert so mancher Tümmler den Gelantine-Ball durch die Luft. Eine neue Attraktion – auch für Touristen.

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