: Revolutionäre Ideen sind pubertär
■ Mit blondgelocktem Charme die Schwächen der anderen sezieren: Tschechows „Platonow“ unter der Regie von Katrin Hentschel und Wenka v. Mikulicz im Tacheles
Sie spielen Tschechow als Übung. Sie spielen seinen „Platonow“, weil sie sich als Theaterstudenten des 3. Studienjahres der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ aus Potsdam-Babelsberg mit der Aufführbarkeit klassischer Theaterliteratur auseinandersetzen müssen. Und da, wo sie keine Lust mehr auf Tschechow haben, spielen sie eben etwas anderes: Schlagzeug zum Beispiel oder Hamlet oder im Videoclip um den Fernsehturm fliegen. Das ist gut so: Denn so wird das Theater von der Aufgabe entlastet, immer schon die Welt zu bedeuten.
Ein paar zersägte Birkenstämme reichen, um im alten Kinosaal des Tacheles auf eine andere Zeit hinzuweisen: Als die Kirschbäume abgesägt wurden und der verarmte Aristokrat sich plötzlich über eine sinnvolle Arbeit definieren sollte. Das ist heute, wo der Mangel an Arbeit nur noch von dem mangelnden Vertrauen in ihren Sinn übertroffen wird, eindeutig Vergangenheit.
Natürlich ist das Landgut futsch, auf dem der Dorfschullehrer Platonow zu Gast ist, natürlich ist die Generalin pleite und Moskau fern. Einige schwärmen vom „Arbeiten“ und „Menschwerden“ und das klingt sehr exotisch. Die meisten aber haben „revolutionäre Ideen“ unter Pubertät abgelegt.
Am Anfang konfrontiert die Inszenierung von Katrin Hentschel und Wenka v. Mikulicz die ins Gespräch verliebte und sich in Gedankenspielen verausgabende Gesellschaft mit den Gesten intellektueller und esoterischer Selbstdarstellung von heute. Die Tschechow-Spieler schauen sich auf einer Videowand an, wie ihre Monologe wohl in Zeiten von MTV aussähen. Messerscharf analysieren sie ihre Situation und finden doch keinen Hebel, um die Rollen, die ihre Funktionen verloren haben, zu verlassen.
Platonow (Felix Goeser) ist der, der das am besten kann. Die eigenen Schwächen und noch viel lieber die der anderen seziert er mit blondgelocktem, selbstgewissem Charme. Frauen verfallen ihm reihenweise. Nur daß sie seine Lust an der Dekonstruktion der gesellschaftlichen Maskerade mit dem Verlangen nach Aufbruch verwechseln. Er aber will sich nicht hineinziehen lassen in ihre Fluchtgedanken. So wird er zur falschen Hoffnung für alle und letztendlich zum Sündenbock ihres Scheiterns.
Die Aufführung sucht keine Negierung des Abstands zwischen der Gegenwart und der Zeit Tschechows. Sie läßt einfach, was nicht paßt, als befremdlichen Text stehen. Die junge Braut Sofia zum Beispiel, naiv und schwärmerisch, bringt Aylin Esener wie das blühende Leben auf die Bühne, ohne deren schwache Konstitution und ihre Perspektivlosigkeit zu mimen. Gespielt wird nur, was sich mit heutiger Befindlichkeit vereinbaren läßt. Und das ist erstaunlich viel.
So hat etwa Achmed Bürger für Ossip, den Dieb, eine verblüffende Interpretation gefunden. Eifersüchtig hütet er die Beziehung zu seiner Chefin, der Generalin: Mit seinen Händen taucht er plötzlich da auf, wo sie mit Platonow ins Handgemenge geraten ist. Ossip ist schwer einzuschätzen, wuselt mit Boxerhandschuhen und im Unterrock zwischen den sonst klar konturierten Figuren. Er gleicht in seiner Aggressivität und Schutzlosigkeit aufs Haar heutigen Gespenstern der Großstadt, die ihre Leiden in der U-Bahn vor uns ausbreiten. Nie aber werden diese Bezüge zur Gegenwart mit jener Penetranz ausgestellt, die das schlechte Gewissen des Zuschauers für Katharsis hält.
Auf einem Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielstudenten in Rostock erhielten die Babelsberger einen Preis. Nach der Premiere im Tacheles gab es Blumen, aber anders als üblich: Die Spieler beschenkten ihre Lehrer und den technischen Stab.
Katrin Bettina Müller
„Platonow“: Nächste Aufführungen vom 22.–25. Juli, jeweils 20 Uhr, Tacheles, Oranienburger Str. 154–156, Mitte
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