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Kein Mitleid mit „Verrätern“

Im orthodoxen Priesterseminar von Prizren im Kosovo haben Serben und Roma, aber eben auch Albaner Zuflucht gefunden. Sie haben eines gemeinsam: Alle haben sie Angst vor der Rache der Albaner  ■   Aus Prizren Thomas Schmid

Prizren, die Perle des Kosovo, die Stadt, in der einst Könige gekrönt wurden, scheint zur Normalität zurückgefunden zu haben. In den Kaffeehäusern hinter der großen Moschee ist kaum ein freier Stuhl zu finden. Aus den Imbißbuden dringt wie früher der Geruch von Köfte, gebratener Fleischklößchen. Orientalische Musik dröhnt durch die Gassen. Nur die deutschen Soldaten, die überall in der Stadt anzutreffen sind, erinnern an die jüngste Geschichte von Terror, Flucht und Vertreibung. Vor dem orthodoxen Priesterseminar im Herzen der Stadt, wo seit 130 Jahren Popen ausgebildet werden, haben sie zwei Jeeps aufgefahren. Sie stehen Tag und Nacht hier. Hinter der Mauer, die das Seminargelände umgibt, leben Menschen, die sich nicht auf die Straße trauen – aus Angst vor der Rache der Albaner.

190 Personen haben hier Asyl gefunden: Serben, Roma und Albaner. „Wir machen da keine Unterschiede“, sagt der Priester Nikolaj, der am Seminar Russisch und Kirchenslawisch lehrt. „Alle unter dem Himmel sind Kinder Gottes.“ Zehntausend Serben habe es in der Region Prizren gegeben, meint der Mann im schwarzen Talar. Nun seien es gerade noch zweihundert, die Hälfte von ihnen hier, die andere irgendwo verstreut in der Gegend. Die Zahlen sind kaum zu überprüfen, Fakt ist jedoch: Die Serben sind aus Prizren geflohen. Niemand hat sie aufgehalten. Im Gegenteil.

Neben hundert zurückgebliebenen Serben leben unter der Obhut des orthodoxen Priesters auch etwa dreißig Muslime. Es sind loyale Albaner, wie Nikolaj sagt. Doch was für die einen Loyalität, ist für die anderen Verrat und Kollaboration. Der Maurer Mustafa Gashi krempelt seine Hosenbeine bis über die Knie hoch, um die gräßlichen Wunden zu zeigen. An einem Dutzend Stellen haben ihm Kämpfer der UÇK mit dem Messer in den Oberschenkel gestochen. Diese Tortur erlitt er im Gefängnis der Stadt, das die Befreiungsarmee übernommen hatte, nachdem die Serben abgezogen waren. 48 Stunden habe er ohne jede Nahrung in einer Zelle verbracht, bis deutsche Soldaten ihn befreiten: „Es war die Hölle.“ Sein einziges Vergehen habe darin bestanden, beteuert Gashi, daß er damals Kijevo, sein Dorf, nicht verlassen habe.

Damals, das war vor einem Jahr. Kijevo, das an der strategisch wichtigen Verbindungsstraße zwischen Priština und Pec liegt, wurde von der UÇK wochenlang belagert und von der serbischen Sonderpolizei verbissen verteidigt. Alle Albaner verließen den Ort, bis auf vier Familien. Kaum seien die serbischen Streitkräfte nach dem Einmarsch der Nato-Truppen aus Kijevo abgezogen, berichtet Gashi, sei die UÇK aufgetaucht, habe die Oberhäupter der vier zurückgebliebenen Familien festgenommen und nach Prizren verschleppt. „Auch mich haben sie fünf Stunden lang festgehalten und geohrfeigt, weil ich Brot für die serbischen Polizisten gebacken habe“, sagt Zeze, seine Frau, „aber die hatten mich doch dazu gezwungen.“ Sie ist aus dem siebzig Kilometer entfernten Ort angereist, um ihren Mann zu besuchen. Ihre fünf Kinder hat sie zu Hause gelassen. Morgen fährt sie zurück. Mustafa sagt, er würde am liebsten mitgehen, aber ohne Begleitschutz der internationalen KFOR-Truppe traue er sich nicht.

„Darf Mustafa Gashi zurück?“ Der junge Mann am Ortseingang von Kijevo, der anderthalb Jahre in der UÇK gekämpft hat und jetzt Tomaten und Paprika verkauft, ist über die Frage erstaunt und sagt nur: „Das müssen die Kommandanten entscheiden, es wäre jedenfalls problematisch.“ Alle Umstehenden beteuern ausnahmslos, daß Gashi für die Polizei gearbeitet habe. Als die Leute vor einem Jahr flohen, habe er in Uniform an der Straße gestanden. „Man darf niemanden foltern“, sagt der UÇK-Mann, der anonym bleiben will, „das ist nicht korrekt. Aber Sie müssen verstehen, was hier abgelaufen ist.“ Gerade vor wenigen Tagen habe man am Straßenrand wieder einen Mann und eine Frau gefunden, beide mit abgeschnittenem Kopf.

Gashis Kinder, alle minderjährig, behaupten, ihren Vater nie in Uniform gesehen zu haben. Da die Mutter in Prizren ist, paßt ein 18jähriger Neffe Gashis auf sie auf. Auch er behält seinen Namen lieber für sich. Er trägt ein T-Shirt in Tarnfarben. Sieben Monate lang habe er in der UÇK gekämpft, sagt er, und er schwört, daß sein Onkel kein Verräter sei. Das habe er auch der UÇK klarzumachen versucht, doch habe diese ihm die Verhaftung angedroht für den Fall, daß er sich weiterhin in die Sache einmische.

Der UÇK-Mann am Tomatenstand bestreitet, daß der Neffe Gashis je in der Befreiungsarmee war. Aber er hat Verständnis für ihn: „Die Solidarität innerhalb der Familie geht uns Albanern über alles.“ Die weithin intakten Familienbande haben schließlich auch die Stärke der UÇK ausgemacht. „Nein, glauben Sie mir, Mustafa Gashi war ein Kollaborateur.“ Vor einem Jahr sind die meisten albanischen Häuser in Kijevo zerstört worden, nun sind die serbischen abgebrannt. Gashis Haus aber steht noch. Der UÇK-Kommandant Sejdi Berisha, so hatte Gashis Neffe behauptet, habe der Frau des verschleppten und gefolterten Albaners zugesagt, man werde das Haus nicht anzünden und die Familie in Ruhe lassen.

Mihrije Bungu lebt schon seit bald einem Monat im Priesterseminar von Prizren. Am 21. Juni, erinnert sich die Albanerin, drangen nachts fünf maskierte bewaffnete Männer in UÇK-Uniformen in ihre Wohnung in Shiroka, 15 Kilometer außerhalb der Stadt, ein, verbanden ihr die Augen und führten sie in ein Haus. Dort nahmen sie ihr die Binde ab und zogen ihre Masken runter. Was dann passierte, will die 18jährige Frau, die ein neun Monate altes Töchterchen auf dem Schoß hat, nicht im einzelnen schildern. Drei ihrer Entführer erkannte die Frau, und von diesen sitzen nun zwei im Gefängnis von Prizren, das nicht mehr von den Serben und auch nicht mehr von der UÇK, sondern nun von deutschen Soldaten bewacht wird. Als Mihrije nach drei Stunden Tortur in ihr Haus zurückgebracht wurde, hatten KFOR-Soldaten die Leichen ihres Mannes und ihres Schwiegervaters schon weggebracht. Mit der Axt habe man Hysni Bungu erledigt, berichtet die junge Witwe, „nur weil seine beiden älteren Brüder Ismet und Sejdi bei der Polizei gearbeitet haben“.

Warum Hysni? Er hat doch nur als Reinigungskraft in einem Hotel gearbeitet. „Alle drei Brüder waren Spitzel des Geheimdienstes“, versichert ein Mann, der in Shiroka auf der Straße Zement mischt. „Sie haben die achtzehn Toten auf dem Gewissen, morgen ist die Beerdigung. Aber lassen Sie mich jetzt in Ruhe, ich habe keine Zeit, ich muß arbeiten.“

Aus dem Mann ist kein weiteres Wort herauszukriegen. Im Lebensmittelladen hingegen ist einer zu einem Gespräch bereit. Es ist Abdulla Sadika, der in diesem Frühling der UÇK beigetreten ist. „Sejdi Bungu hat meinen Vater und meinen Onkel getötet“, sagt er, „und nun ist er mit seiner Frau nach Belgrad abgehauen.“ Achtzehn verstümmelte Leichen wurden am Dorfrand gefunden, Opfer eines Massakers der serbischen Streitkräfte. Die Menschen wurden im April ermordet. Nach drei Monaten sollen sie nun würdig bestattet werden.

Und was hat Hysni getan, daß er sterben mußte? „Er hat für die Polizei gearbeitet“, behauptet Sadika, doch gibt er zu, daß er Hysni nie in Uniform gesehen hat. Im Dorf selbst habe keiner der drei Brüder Ärger bereitet, aber außerhalb überall, wo sie nur gekonnt hätten. Aber alle drei hätten sie unter einer Decke gesteckt. Sie hätten die Häuser der Albaner angezündet. Alle drei und auch ihr Vater hätten für den Geheimdienst gearbeitet. „Hysni hat im Fernsehen Propaganda für die Serben gemacht“, betont Sadika, „er hat zur Wahl von Miloševic aufgerufen.“ Mußte man ihn deshalb töten? Da sagt der UÇK-Mann unverhofft: „Ich schwöre Ihnen bei meinem Leib und Leben, daß nicht die UÇK Ismet und Hysni getötet hat.“ Wie bitte? Nicht die UÇK? Davon waren doch hier gerade noch alle ausgegangen. Und auch Ismet tot, der ältere Bruder? Dessen Frau, die ebenfalls im orthodoxen Priesterseminar untergekommen ist, wähnte ihren Mann im Gefängnis. Ismet sei im Hotel Boss umgebracht worden, da wo Hysni arbeitete, ein Hotel, dessen Zimmer vornehmlich von serbischen Polizisten belegt sind. „Die Serben haben ihre eigenen Spitzel hingerichtet“, präzisiert Sadika, „um nachher den Albanern die Schuld in die Schuhe zu schieben.“

Sadika hat den Ton vorgegeben. Nun sagt auch Veli Kuqi, der Polizist, der nach der Abschaffung der Autonomie des Kosovo aus dem Staatsdienst entlassen wurde, die Serben hätten ihre albanischen Spitzel umgebracht. Nun gibt auch er zu, niemand habe Hysni je in Uniform gesehen. Vor Fremden darf es zwischen Albanern offenbar keine Widersprüche geben. „Haben Sie Beweise dafür, daß Hysni Bungu für den Geheimdienst gespitzelt und für die Polizei gearbeitet hat?“ – „Die Bungus hatten keine Kontakte zu anständigen Menschen, niemand mochte sie hier, man wußte hier, wer für den Geheimdienst arbeitet.“

Das Haus, aus dem Mihrije verschleppt und in dem Hysni erschlagen wurde, steht außerhalb des Dorfs, neben den neuen Häusern, in denen geflüchtete Serben aus Bosnien untergekommen sind. „Weshalb hat man hier zwei Männer getötet?“ Der entfernte Bekannte der Familie, der vorübergehend nun hier wohnt, damit das Haus nicht leer steht, zuckt nur die Schultern. „Es waren Verräter, heißt es“, meint er schließlich. Glaubt er das? „Hysni war ein einfacher Arbeiter“, gibt der Mann etwas nach, „ich kann aber nun mal nichts ausschließen.“

Hat Hysni für die Polizei gearbeitet? Vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Die Leute im Lebensmittelladen sagen, er sei nicht ganz dicht gewesen, habe einen Vogel gehabt, und sie tippen unmißverständlich an die Stirn. Hat er es vielleicht deshalb nicht wie seine Brüder zum Polizisten gebracht? War er der Dorftrottel? Wären das mildernde Umstände? Solche Fragen interessieren die Leute hier nicht. Jedenfalls heute nicht. Zu groß ist der Schmerz über die eigenen Toten, zu nahe noch die Zeit des Schreckens, zu viel haben die Menschen hier in den letzten Monaten durchgemacht, als daß sie sich jetzt auch noch die Sorgen anderer machen könnten. Morgen ist die Beerdigung. Achtzehn Gräber wurden bereits ausgehoben.

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