Permanenter Wutstau

Dämonen sehen dich an: Im Jahr seines 150. Geburtstages ist die merkwürdig unbekannte Weltliteratur August Strindbergs in einem Werkporträt zu entdecken  ■   Von Guido Graf

In einem selbstgemachten Fotoalbum von 1886 hat sich August Strindberg ein Porträt gebastelt, das Stummfilm, Hölle und Komödie zugleich zu sein scheint. „Die Photos zeigen den grausigen Frauenhasser Aug(ust) S(trindber)g in 18 realistischen Situationen. [...] Die Bilder sind, wie man sieht, keine Proben schöner Photographie, sondern – das, wofür sie sich ausgeben.“ Die Mappe wird nicht veröffentlicht, obwohl sich Strindberg kompromißbereit zeigt und anbietet, „daß beispielsweise die Kinder etwas wegretouchiert und zu Nebenfiguren werden“.

Leiden und Dilemma August Strindbergs haben nicht wenig damit zu tun, daß neben ihm alle Menschen zu Spielmaterial werden, zu Dämonen, denen allein daran gelegen ist, ihn zu quälen. Daß es sich um eine übersteigerte Form von Narzißmus handeln könnte, um einen blinden, aber durchaus gepflegten Selbsthaß, war Strindberg nur zu bewußt. Er lebte diesen Verfolgungswahn und konnte ihn zugleich als Pose reflektieren.

Das Fotoalbum zeigt wieder und wieder Strindberg am Schreibtisch, die Feder in der Hand, mit aufgeregtem Schnurrbart und stechendem Blick, das kurze, verwirbelte Haar ganz so, als sei es drapiert worden, um die nervöse Erregung des Dichters zu demonstrieren. Unter diesen und anderen Fotografien, die Strindberg mit seinen Kindern, im Garten oder mit der Gitarre zeigen, finden sich immer kurze Zitate, vorzugsweise aus seinem Erstling, dem Roman „Das rote Zimmer“ von 1879. Nur die letzten beiden Abzüge des Albums tragen keine Legenden, und sie kommen dem Titel der Mappe „Zwölf impressionistische Bilder“ mit ihrer grobkörnigen Unschärfe auch am nächsten. Einmal kann man Strindberg mit Sommerhut, Gießkanne und zweien seiner Kinder im Garten sehen.

Auf dem letzten Porträt scheint der Blick unmittelbar in die Kameralinse zu stechen, scheint Strindberg schreibend geradezu aus dem Bild herauszukriechen. Und hier wird auch ein Punkt berührt, an dem die Nähe zum Porträtierten unerträglich wird, an dem wir einen Eindruck davon erhalten, wie sehr Strindberg Nähe verabscheut hat. Eine Perspektive wie Ikarus, von hoch oben auf das ferne Ameisengewimmel der Menschen, zog er vor. Mit so einem Blick auf Stockholm beginnt „Das rote Zimmer“. Sein Held Arvid Falk schaut auf die Stadt zu seinen Füßen, „als betrachte er einen Feind. Seine Nasenflügel blähten sich, seine Augen flammten, und er hob die Faust, als wolle er die Stadt herausfordern oder ihr drohen.“

Diese Haltung des permanenten Wutstaus ist sicher eine der auffälligsten und die, von der das Bild der merkwürdig unbekannten Strindbergschen Weltliteratur, zumal in Deutschland, lange geprägt war. Allein einige der bekannteren Dramen werden hin und wieder aufgeführt. Es gibt noch viele Facetten in diesem Werk zu entdecken, und es gab auch immer wieder verdienstvolle Anläufe, an der bis heute, im Jahr des 150. Geburtstags von August Strindberg, katastrophalen Editionslage etwas zu ändern.

Die in den achtziger Jahren im Insel Verlag begonnene Ausgabe der „Werke in zeitlicher Folge“ wurde nach vier von zwölf geplanten Bänden eingestellt. Im vergangenen Jahr ist ein großartiger Band mit einer Auswahl von Schriften Strindbergs zu Malerei, Fotografie und Naturwissenschaften erschienen. Angesichts der ungeheuren Produktivität Strindbergs – die schwedische Gesamtausgabe der Werke und Briefe ist auf rund 100 Bände angelegt – ist das Unterfangen einer Auswahl, die ein möglichst reiches und eindrückliches Bild von seinem Werk zeichnet, kompliziert und mühevoll.

Renate Bleibtreu, die nun ein voluminöses „Werk-Portrait“ in einem Band herausgegeben hat, ist die Anstrengung ohne Einschränkung gelungen. Denn offenbar war ihr nicht zuerst an repräsentativer Auslese gelegen. Sie zeichnet ein eigenwilliges und entschiedenes Porträt, das den Akzent auf Strindberg als Autor von Novellen, Essays und Prosaszenen als Brief- und Tagebuchschreiber legt. Besonders hervorzuheben ist die natürlich viel zu klein geratene Auswahl aus dem sogenannten Grünen Sack, einer Sammlung unzähliger Notizzettel unterschiedlicher Größe, ausgerissenen Buch- und Zeitungsseiten, die der 1912 an Magenkrebs verstorbene Strindberg in seinen letzten Lebensjahren in einem grünen Stoffrucksack überallhin mit sich nahm: eine Armada von Einfällen, aber auch von schriftgewordenen Dämonen, wie sie ihm sein ganzes Leben gefolgt sind und sich nur bisweilen, zum Beispiel für die Dauer eines Theaterstücks, geordnet haben.

Einfälle wie Notsituationen bedrängen ihn stetig: „Eine Kerze erlischt, brennt aus. Ein Zeitungsblatt weht ihm nach; er hebt es auf und liest. Die Uhr schlägt hundertmal; schlägt immer, wenn er sprechen will. Der Mond verfolgt ihn. Laterna Magica Bild projiziert auf den Rauch seiner Zigarre. Die Buchstaben aus den Fadennudeln in der Suppe. Der überfüllte Briefkasten. Die Nebel in seinem Zimmer. Türen öffnen sich; Fenster dito. Larven. Die Möbel beginnen aufzutreten, tanzen Quadrille. Der Teppich rollt sich zusammen; das Zimmer leert sich; die Möbel verschwinden. Ein Kind schlägt ihm ins Gesicht. Wein und Essen. Er hört seine eigene Stimme im Telephon. Rauch entsteht. Sein Doppelgänger. Er verliert die Stimme, wird taub und blind. Das Leben zieht in Bildern vorbei. Er hört Gesang.“

Strindberg glaubte jede Grenze überwinden zu müssen, in jedem einzelnen Werk, mit jedem Werk immer wieder neu und in eine andere Richtung, am besten alles zugleich. Dramen wie „Fräulein Julie“ von 1888 oder „Ein Traumspiel“ von 1902 haben das vorgeführt und seinen Ruhm begründet. Die Auswahl Renate Bleibtreus konzentriert sich auf den vollständig abgedruckten Roman „Inferno“. Nach der Heirat mit seiner zweiten Frau, Frieda Uhl, und der Geburt der Tochter Kerstin 1894 gerät Strindberg in eine tiefe seelische Krise, die er dann, 1897, mit dem tagebuchartigen „Inferno“ bewältigt zu haben scheint.

Viel ist über Strindbergs angebliche Schizophrenie, seine Swedenborg-Lektüre, die zunehmende Neigung zum Okkultismus und die dilettantischen chemischen Selbstversuche spekuliert worden. Selten wurde allerdings wahrgenommen, daß es sich hier bis zu einem gewissen Grade auch um Rollenspiel und rhetorische Manöver gehandelt haben könnte. Mit der Zusammenschau, die nun das vorliegende „Werk-Portrait“ aus der Zeit zwischen 1894 und 1896 zur Verfügung stellt, in der nichts Literarisches entstanden ist, mit Strindbergs Briefen an seine kleine Tochter Kerstin, einer Reihe von langen Schreiben an seinen Gönner Thorsten Hedlund, der auch Anhänger der Theosophie war, gelingt ein durchaus anderes, privateres Bild von dem, was sich unter der literaturhistorischen Rubrik „Inferno-Krise“ abgespielt hat. Das Kind, das ihm auf dem Zettel aus dem „Grünen Sack“ ins Gesicht zu schlagen droht, ist ein Wiedergänger seiner Tochter, die er mitsamt ihrer Mutter schon 1895 verlassen hatte.

Die Briefe, die Strindberg 1895 dem noch nicht einjährigen Kind – auf deutsch – schreibt (womit er sich natürlich durch einen Unschuldsfilter an die ebenso geliebte wie gehaßte Mutter richtet), sind herzzerreißend: „Liebes Kind, Kerstin, Du weißt wann mein Geburtstag ist aber ich habe dein vergessen obschon ich ihn nie vergessen kann.“ Zu seinem 46. Geburtstag am 22. Januar 1895 erhielt Strindberg ein Paket unter dem Namen Kerstins mit Blumen, Zigaretten und einer Fotografie seiner Tochter: „Und so sendest du mir was freuliches als ob Du das auch schon wusste dass mein Leben nicht allzu fröhlich war. Du hast mir also verziehen dass ich Dir keine Weihnachts- und Neujahrgaben geben konnte! Da bist Du ein gutes Kind dass Du verzeihen kannst wo der Andere keine Schuld hat! Und so hast Du keine Zähne noch! Wie Du dein Vater ähnelst! Und so sind wir beide wehrlos wie Lämmer und werden wohl vom Wolf bald zerrissen. Aber ich bin doch der überlegene betriffs Haare. [...] Ich bin in schlechtem Gesellschaft gerathen und fühle mich als ob ich es besser bei Dir hätte. Wenn Du, liebe Tochter, ein mal Dich heirathen sollst (willst Du wohl nicht) so nimm nicht den Dichter; nimm den Verleger, und Du willst glücklich sein! Da hast Du immer deine beiden Eltern zu Hause; und vielleicht auch den Dichter in einer Ecke irgendwo.“

Ein wenig zurückgenommen von der Überschärfe der dann wie hysterisch gestimmten „Inferno“-Prosa, sentimental erleichtert, wird ein anderer Strindberg vernehmlich, der sich nur zu klar über das Geister- und Maskenspiel ist, in das er, wie er Thorsten Hedlund schreibt, beständig flüchtet: „Somit habe ich zwei Leben gelebt: ein exoterisches, ein esoterisches, und wenn ich jetzt über mein Auftreten in Gesellschaft nachdenke, wo ich immer unbewußt meine Person ausgeliefert habe, der Lächerlichkeit, der Verachtung, dem Mitleid, kommt es mir so vor, als habe eine Furcht, mein Bestes preiszugeben, mich getrieben.“

August Strindberg: „Ich dichte nie. Ein Werk-Portrait“. Hrsg. von Renate Bleibtreu unter Mitarbeit von Wolfgang Butt. Aus dem Schwedischen von Renate Bleibtreu, Wolfgang Butt u. a., Rogner & Bernhard, 1999, 792 Seiten, 48 Mark