Themenläden und andere Clubs: Mein Erlebenshunger
■ Eine kurze Geschichte über das Ausgehen: Nicht der Ort war wichtig, sondern die Tatsache, daß wirklich ALLE da waren
Es ist Sommer. Sommerabends. Heute abend ist eine Ausstellungseröffnung bei Wiensowski & Harbord. Mit anschließender Lesung. Wäre es jetzt Winter oder kalt oder Regen, würde ich nicht dort hingehen. Außer vielleicht wenn ich noch in Charlottenburg wohnen würde. Dann würde ich dort hingehen, um meine Freundinnen zu treffen, die in Kreuzberg wohnen und sonst nie nach Charlottenburg kommen. Diese Gelegenheit würde ich mir nicht entgehen lassen.
Jetzt wohne ich aber in Schöneberg, und es ist Sommer und eine laue Sommernacht, und ich könnte bei der Gelegenheit meine Charlottenburger Freunde treffen. Und mit ihnen auf dem Balkon stehen, dem schönsten Balkon, in der schönen leeren Wohnung und bei der Gelegenheit durch den lauen Sommerabend radeln. Das sind die Gründe, die in diesem Fall für das Ausgehen sprechen. Nicht die Eröffnung. Nicht die Lesung.
Die schon gar nicht. Während der Lesung hätten wir den Balkon für uns. Würden uns die Abendsonne ins Gesicht scheinen lassen, an den Blumen zupfen und am Weinglas nippen und uns das Neueste erzählen; und mit noch ein paar anderen, die an diesem Sommerabend aus dem selben Grund hier sind und auch lieber auf dem Balkon stehen als in einer Lesung sitzen, würden wir eine kleine verschworene Gemeinschaft bilden und uns prächtig amüsieren. Das Ausgehen ist anders geworden. Vor jedem Ausgehen muß man abwägen: Was spricht dafür – was spricht dagegen? Selten ist die Entscheidung für mich eine einfache und selbstverständliche.
Früher war das anders. Da habe ich keine Nacht ausgelassen, aus Angst, etwas zu verpassen: die Nacht der Nächte. Die Gefahr, etwas zu verpassen, war sehr groß. Heute verpasse ich höchstens das Fernsehprogramm. Auch selten, aber manchmal schon ein Grund, eher nach Hause zu gehen. Trotzdem bin ich auch jetzt noch oft die letzte, die geht. Weil die Nächte kürzer geworden sind und mein Erlebenshunger selten gestillt wird.
Daß ich weniger ausgehe, liegt nicht an mir, sondern an den anderen. Und daran, daß ich jeden Morgen aufstehen muß. Aber ich freue mich manchmal schon Tage vorher auf Essenseinladungen und Verabredungen. Früher wollten wir uns nicht voneinander trennen.
Das geht mir immer noch so. Dann sind wir an manchem Sommermorgen nach dem Parkcafé noch an den Starnberger See gefahren und haben am Strand geschlafen, wie junge Hunde. Oder bei einem, der ein großes Bett hatte. Wer zu Hause blieb, war einsam. Der konnte, wenn er Pech hatte, monatelang nicht mehr mitreden, weil er die Nacht der Nächte verpaßt hatte. Das wollte keiner. Das ist nicht mehr so. Die Tage sind wichtiger geworden als die Nächte. Das ist der Grund. Man mußte sich damals nicht verabreden. Es gab das Baader und das Tanzlokal, da gingen alle hin, und danach ging man zusammen in die Bodega Bar oder in das Parkcafé.
Und ein gelungener Abend war: wenn ALLE da waren. „Wie war's gestern?“ fragte man, und Miriam sah einen fassungslos an, weil man nicht dabeiwar, und antwortete: „ALLE waren da!“ Und dann mußte man nicht mehr weiterfragen. Nicht der Ort war wichtig, sondern die Tatsache, daß ALLE da waren. Man ging dorthin, wo ALLE hingingen, keine Frage. Da gab es keine Wahl. Heute ist das anders. „Und, wo wollen wir uns treffen?“ „Ich weiß nicht, sag du was.“ „Treffen wir uns doch irgendwo in der Mitte.“
Genau. Und dann treffen wir uns irgendwo in der Mitte, zwischen Myslivska und Kumpelnest, zwischen Schöneberg und Kreuzberg, und trinken ein paar Biere und erzählen uns das Neueste. Elke Naters
Elke Naters ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Demnächst wird bei Kiepenheuer & Witsch ihr zweiter Roman „Lügen“ erscheinen.
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