Wahlkampf mit den 630-Mark-Jobs

■ Nach Angaben des Wirtschaftssenats sind über 16.000 Billigjobs weggefallen, seit die neue Regelung im April in Kraft trat. Die Gewerkschaften verteidigen die Gesetzesnovelle

Wie lange wartet man im Biergarten auf seine Berliner Weiße, wie lange an der Kasse im Supermarkt? Wenn man den Zahlen glaubt, die Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (CDU) gestern veröffentlichte, könnte es bald noch länger dauern. Seit der Neuregelung im April seien über 16.000 sogenannte 630-Mark-Jobs, die nicht sozialversicherungspflichtig sind, weggefallen: im Einzelhandel und Handwerk, im Hotel- und Gaststättenbereich.

„Alles Wahlkampf“, winkt Manfred Birkhahn ab. Der Berliner Vorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) hält Branoners Angabe, im Einzelhandel seien durch die Neuregelung bereits 8.500 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse weggefallen, für übertrieben. „In keinem Unternehmen, in dem es Betriebsräte gibt, hat es eine Kündigungswelle gegeben.“

Zudem müsse man die gesamte Angelegenheit differenziert sehen, so Birkhahn. Für diejenigen Beschäftigten und Unternehmer, die schon vor der Neuregelung die 630-Mark-Jobs regulär angemeldet hatten, habe sich nicht viel geändert. Statt einer Pauschalsteuer von 20 Prozent müßten jetzt Sozialversicherungsbeiträge in annähernd gleicher Höhe entrichtet werden.

Meutern würden in erster Linie nur diejenigen, die den 630-Mark-Job als Nebenverdienst nutzten. Grund: Sie müssen, wie andere Beschäftigte auch, nun auf ihren Gesamtverdienst Abgaben entrichten.

„Das Ganze ist mit einer ungeheuren Bürokratie verbunden“, kritisiert der Sprecher des Wirtschaftssenats, Michael Wehran. Die Umfrage der Senatsverwaltung bei den Wirtschaftsverbänden habe „die schlimmsten Befürchtungen bestätigt“. Im Berliner Handwerk seien 5.500, im Hotel- und Gaststättengewerbe rund 2.000 Billigjobs weggefallen. Deshalb müsse die „alte Regelung sofort wiedereingeführt werden“. Schade sei nur, so Wehran, daß die Berliner SPD rückständiger als die Bundespartei sei und eine solche Senatsinitiative nicht unterstütze.

Daß die alte Regelung wiedereingeführt wird, lehnen auch die Gewerkschaften ab. „Da hat es einen Haufen Mißbrauch und Betrug gegeben“, sagt Roland Franke von der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten. Viele Betriebe hätten normale Beschäftigungsverhältnisse in mehrere Billigjobs aufgeteilt, meint auch Birkhahn. In einem sind sich aber die Gewerkschafter und der Wirtschaftssenat einig: Seit April seien kaum 630-Mark-Jobs in reguläre Teilzeit- oder Vollzeitjobs umgewandelt worden. Richard Rother