Immer an der Wand lang

■ Großes und Grundsätzliches zum Auftakt der Salzburger Festspiele: Berios „Cronaca del Luogo“ führt mit Pauken und Trompeten zurück bis zum Alten Testament und sogar weiter

Ein grundsätzliches Stück präsentierten die Salzburger Festspiele heuer zur Eröffnung: „Cronaca del Luogo“. Der Titel der Musiktheater-Produktion zielt in absichtsvoll altertümlicher Sprachform auf eine „Chronik des Orts“; er spielt auf den heiligen Platz an, dem auch die Festspiele unserer Kultur einst entsprangen. Im besonderen angesprochen sind die Erscheinungsorte des im Alten Testament festgehaltenen unsichtbaren Gottes.

Das greift weit und hoch. Die Handlung begibt sich auf Suche in mancherlei Hinsicht: Tastend nach vorn in eine neue Gegenwart, welche die Musik des großen italienischen Komponisten Luciano Berio umkreist; zugleich führt sie labyrinthisch weit zurück mit den Textpartien der in Tel Aviv geborenen und auch in jüdischer Philosophie beschlagenen Musikwissenschaftlerin Talia Pecker Berio. Zurück in die Dimensionen des archaisch Kultischen. „Cronaca“ zielt letztlich auf die Rekonstruktion von Aura. Das vermag zu irritieren und befremden.

Die Chronik erinnert an Großes und Grundsätzliches wie an manches entschwunde Detail. „Hör auf die Zeit der Nacht“, intoniert der Chor zu Beginn in Anspielung auf ein Wort im 5. Buch Moses. Der Prolog fordert – in Anlehnung an die jüdische Pessach-Liturgie: „Weck die Erinnerung / Fackel in der Nacht“. Und dann tritt „R“ aus der Vielzahl der Leute, die nicht als geballte Menge auf der weiten Spielfläche der Felsenreitschule warten, sondern als einzelne oder sogar vereinzelte, die dennoch in einem Zusammenhang stehen. Der zum Buchstaben R verkürzte Name Rahab ist der fulminanten Sopranistin Hildegard Behrens zugeordnet, die als Mahnerin und Anklägerin, Kronzeugin und Reisebegleiterin Berios musikalischer Schall- und Klagemauer entlangführt. Wohl mag sie in der Mauer hausen, aus der ihr Echo und Erinnerungen widerhallen; jedenfalls bleibt sie fixiert auf jene mit einfachen menschlichen Kräften unüberwindlich hohe Wand, die so vieles darstellt: Barriere und Baustelle, Machtsymbol und Schutzwall, Umfriedung von Heimat und Sichtblende für all das, was dahinter verborgen ist. Mauern bilden den Kontrast zur Piazza, dem öffentlichen, betriebsamen und nie ganz sicheren Raum.

Die Berios komponierten Situationen vor der hohen Wand und ordneten ihre aus Prolog und fünf Tableaus bestehende Installation einem bestimmten und ziemlich einmaligen Ort zu: der Felsenreitschule. Die diente in Zeiten der Fürstbischöfe von Salzburg als Pferdedressur- und Exerzierplatz und gehört zu den architektonischen Kleinodien der Stadt. Um die in drei Etagen in den hohen Fels gehauenen Arkadengänge und die davor unter freiem Himmel liegende Aktionsfläche herum entstanden 1920 die Festspiele; seither wurden, zwischen den beiden Festspielhäusern, feste Tribünen errichtet – und zwar so, daß der Blick auf die einstigen Zuschauerlogen geht. Diesmal beherbergen die Nischen hinter den mehr als 50 Bögen, die zunächst durch undurchschaubare Gaze verhängt blieben, die Instrumentalisten des Wiener Klangforums und Sänger des Arnold-Schönberg-Chors: Fast erdrückend kann die Klangwand sein, die sich da den Zuhörern entgegenstellt, freilich auch so faszinierend differenziert im Wechselspiel der unterschiedlichsten Klangquellen. Einzelne Töne setzen im großen Klangband Berios Akzente, markante Figuren Ausrufungszeichen. Es dominieren die Bläser – auch das unterstreicht, daß noch der geballteste Klangblock durch das Zusammenwirken von einzelnen sich konstituiert, nicht von einer kollektivierenden Masse.

„Cronaca del Luogo“ erinnert im ersten Tableau an die bekanntlich musikgestützte Belagerung und Eroberung Jerichos, von der ein bis heute auf der Region liegender Fluch ausgeht. Auf weitem Feld begegnen sich, in großer musikalischer Schönheit (freilich keiner neotonalen) die durch Raum und Zeit wandernden R und Orvid (ein mythenverschlingendes Kompilat aus Orpheus, David und Ovid). Ein Hirsch dringt aus der Tiefe des Raums, entledigt sich des Geweihs und ... erweist sich als Vorarbeiter. Die rüstig zur Tat schreitenden Bauleute in Blaumännern und gelben Helmen, die so manches vergeblich beginnen und dann untereinander in Streit geraten, erinnern an den Turmbau zu Babel, der ja auch auf Mauern gegründet war. Dann öffnet sich, durch Beleuchtungswechsel, der Blick in die Felsnischen: Vier Dutzend Musikerkämmerchen tun sich als Erinnerung an traute Idylle auf.

Der Platz vor der schützenden und einschließenden Mauer aber erweist schließlich seine Ambivalenz: Er dient den täglichen Geschäften und dem politischen Zugriff. Auf ihm werden die Choristen erfaßt und vermessen. Auf ihm – es bleibt angedeutet – kann der Terror kulminieren. Die Musik setzt entsprechende Signale. Zurückdenken ist in aller Regel nur bedingt erbaulich, gar lustig. „Setz deine Fahne auf halbmast, Erinnerung“, singt der Chor am Ende mit Paul Celan. Frieder Reininghaus