Unfähigkeit zum Glück auf allen Bühnen

Bayreuth, wie es klingt und kracht: Der Staatsminister streicht Zuschüsse, der Onkel streitet in neuer Runde nach alter Manier mit Nichten und Neffen. Keith Warner inszeniert unterdessen einen beklemmend aktuellen, tieftraurigen Lohengrin  ■   Von Sabine Zurmühl

„Herr Naumann, haben Sie Ihre Karte bezahlt!?“ und „S-P-D ... Festspiele ade!?“ steht auf den Transparenten, die junge Bayreuther am Fuße des Grünen Hügels tapfer in die Sonne halten, während oben eigentlich alles wie immer seinen Gang geht: Eine Dame hält ihren selbstgemalten sprechenden Schwan in die Höhe: „Darf ich auf ein Wunder hoffen?“ Die Leute mit Karten flanieren, soweit dies die Promi-Absperrungen der Polizei zulassen: Borsalino ist wieder in und Corsagen gewagtester Natur, ein Hardcore-Schwuler in schwarzem Leder und Margot Werner mit scharfer Begleitung. Die Bayreuther klatschen und rufen begeistert, als der Mallorca-Reisende Thomas Gottschalk aus dem Auto steigt. Er verbeugt sich, als habe er gesungen, und geht dann mit Gunter Sachs ins Selbstbedienungsrestaurant. Daneben das Defilée der Polit-Oberschicht: Oetker und Naumann, Schily und Scheel, Genscher.

Naumann hat den Festspielen 480.000 Mark gestrichen vom Staatszuschuß. Aber er und Wolfgang Wagner haben sich schon geeinigt, „irgendwie“. Jetzt sitzt er in der Staatsloge, der Kulturminister, Gast und möglicher Spielverderber, aber erst mal beste Miene. Viel wichtiger und spöttisch-lechzend beobachtet ist ja doch die Nachfolgefrage im Bayreuth-Imperium. Nichte Nike, die Speerspitze der Kritik an der angeblichen oder wirklichen Stagnation des Hauses, trifft auf Onkel Wolfgang nun ausgerechnet auf der Treppe des Festspielrestaurants, eine Bühne im kleinen. Der Onkel schlägt einen Haken und verschwindet ... Konflikt zum Anfassen. Der Herr der Ringe hatte schließlich seinen Rücktritt in Aussicht gestellt und die Bewerbungsmaschinerie damit satzungsgemäß in Gang gesetzt. Jetzt will er aber bleiben und höchstens Frau Gudrun und Tochter Katharina sein Erbe, das ihm satzungsgemäß gar nicht gehört, überantworten. Dafür trifft ihn besonders das Hohngelächter der nächsten Wagner-Generation, die den Onkel zwar in fast allem kritisiert, aber dann doch die Familienzugehörigkeit, die man ihnen allen fast überdeutlich auch noch ansieht, als Pfand für die Zukunft begreift: Wagnerblut soll es schon sein. Nike Wagner, die Tochter Wielands, empfiehlt sich heftig, nicht ohne systematisch und mit aller geschliffenen Kompetenz die Stätte herabzusetzen, um deren Leitung sie sich bemüht. Und da sie dabei ebenso den Stiftungsrat angreift, der sie letztendlich aber wählen soll, sind Zweifel am Erfolg ihres „Wahlkampfs“, wie sie es nennt, angebracht. Die von ihr favorisierten Mitstreiter: Cousine Eva Wagner-Pasquier, im Hause wohlgelitten, bei vielen Proben dabei und von Beruf das Richtige, nämlich Musiktheatermanagerin. Dazu Wieland Lafferentz, Sohn der Wolfgang-Schwester Verena und Mozarteum-Geschäftsführer. Das ist zwar der falsche Komponist, ansonsten aber auch ein musikpraxisnaher Beruf. Mag sein, daß aus dem Triumvirat der Zukunft ein Duo werden könnte.

Mit der diesjährigen „Lohengrin“-Premiere, die die Festspiele eröffnete, haben sich noch einmal blitzartig die Koordinaten geändert, weil es sich um eine unstreitig erfolgreiche Premiere handelt. Der neue künstlerische Name in Bayreuth: Keith Warner, englischer Arbeitersohn, knapp über vierzig. Wagners „schwärzeste Tragödie“ nennt Warner das Stück vom Gralsritter zu Besuch. Warner nun „knackt“ die Dramaturgie der Oper, indem er von Anfang an klarmacht, daß es keine Liebe und Erlösung geben wird. Das Bühnenbild von Stefan Lazarides zeigt eine schwere, traurige, morastige Welt, an der auch der lichte Lohengrin scheitern wird.

Wirkliche Trägerin und Voranbringerin des politischen Konflikts ist Ortrud, bejubelt vom Publikum: Gabriele Schnaut, Intrigantin und gleichzeitig einzige Realistin. Sie setzt Elsa den Zweifel an Lohengrin ins Herz, so nachhaltig, daß eine Liebe zum Ritter verhindert wird. Elsa, hervorragend klar und weich gesungen von Melanie Diener, wird als zögernde, fast somnambule Marionette Ortruds gezeigt. Warner erschüttert alle Situationen dieses Musikdramas, die zur liebgewordenen Wagner-Rezeption gehören und dies Stück so beliebt machen: die Unschuld des Blondchens Elsa, die scheinbare Schuld Ortruds, das „lichte“ Paar, den einschmeichelnden Brautchor („Treulich geführt“). Alle angestammten Hierarchien sind neu zu bestimmen: die der Moral, die der Macht, die der politischen Konvention. Es sei eben ein Stück, so Warner, „in dem Gefühle auf unfruchtbaren Boden fallen“. Elsa und Lohengrin spielen das „Komm her – geh weg“-Spiel miteinander, keine Zärtlichkeit, nur Reserve, Angst. Der Triumph liegt bei Ortrud. Sie hat einfach Recht behalten von Anbeginn. Sie umarmt die erstarrte verstummte Elsa wie eine mütterliche Geliebte. Wange an Wange, Beschützerin noch des Opfers.

Die musikalische Leitung lag bei Antonio Pappano, Italiener in England, langjähriger Assistent Barenboims in Bayreuth, ebenso zart wie rasant, zwischendurch getrieben von einem hetzenden Tempo, als ob diese abgewrackte Gesellschaft ihrer eigenen Rettung davonliefe. Die Selbstfeier ironisiert sich selbst. Eine Märchenoper hat (endlich) eine zusätzliche Dimension gewonnen, sie wird auf diese Weise beklemmend, traurig und ziemlich wahr.

Ganz offensichtlich hat Keith Warner mit seinem Team ein Zeitgefühl getroffen. Die Unfähigkeit zum Glück wird verstanden. Ein glänzender Aufttakt, der den Kritikern Bayreuths die Sache nicht einfacher machen dürfte.