Die stummen Zeugen der Verbrechen

■ Daß es Massengräber bei Orahovac im Süden des Kosovo gegeben hat, steht inzwischen fest. Wie viele albanische Zivilisten ermordet und hier vergraben worden sind, soll ein Expertenteam herausfinden. Ein Jahr nach dem Massaker berichtet aus Orahovac Erich Rathfelder

Es ist drückend heiß im Talkessel. Trotzdem sind überall in Orahovac die Menschen dabei, ihre Häuser zu reparieren, die Fenster der Läden zu verglasen, die durch die Kämpfe der letzten Jahre beschädigten Gebäude wieder herzurichten. Orahovac ist mit seinen Moscheen und Kirchen, den verwinkelten Gassen der Altstadt, den Häusern im türkischen Stil, den ummauerten Gärten, eine schöne Stadt. Hier lebten bis vor dem Krieg rund 25.000 Menschen, davon 80 Prozent Albaner, aber auch Serben, Montenegriner, Türken, slawische Muslime. Die Bewohner der Stadt im Süden des Kosovo haben einen eigenen Dialekt entwickelt, der albanische, serbische und türkische Elemente enthält.

Heute ist Orahovac eine geteilte Stadt. Die 3.000 Menschen zählende serbische Minderheit drängt sich in einem Stadtteil am Rande oder hat sich in das Nachbardorf Velika Hoca zurückgezogen. Bevölkert wird die Innenstadt von zurückgekehrten Albanern, die im letzten Jahr und in diesem Frühjahr vertrieben worden waren. Die umliegenden Felder und Weinberge sind überwuchert von Unkraut. Auf ihnen konnte schon seit zwei Jahren nicht mehr gearbeitet werden. Sie sind zudem vermint.

Hohe Gräser bedecken auch jenen Ort, der Orahovac im Sommer 1998 in die Schlagzeilen brachte. Er liegt etwa 800 Meter östlich, entlang der Straße nach Suva Reka. Hier wurden Menschen vergraben, die im Juli 1998 in Orahovac ermordet wurden. Damals berichtete die taz, daß Hunderte Albaner von serbischen Truppen getötet und in Massengräbern verscharrt worden seien. Ein Augenzeuge hatte die Zahl von 567 Opfern genannt, darunter 430 Kinder.

Die serbische Regierung leugnete das Massaker an der Bevölkerung und die Existenz von Massengräbern. Auch einige Institutionen der internationalen Gemeinschaft nahmen die brutalen Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten zunächst nicht ernst. So erklärte eine Beobachtergruppe der Europäischen Union (ECMM) am 5. August 1998, es lägen keine Beweise über die Existenz von Massengräbern bei Orahovac vor. Erst im Frühjahr 1999 legte das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte in Wien einen Bericht vor, der bestätigte, daß in Orahovac Albaner, vor allem Zivilisten, erschossen, verbrannt und gefoltert wurden. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, können erst die Ausgrabungen durch ein Expertenteam des deutschen Bundeskriminalamtes (BKA) klären, das dem Haager Kriegstribunal zuarbeitet. Das Team hat gestern in Orahovac seine Arbeit aufgenommen. In diesem Bezirk sind die meisten Massengräber im Kosovo: Orahovac, Bela Cirkva, Velika Krusa, Pustasel, Celina, und weitere Orte des Schreckens liegen nur wenige Kilometer von einander entfernt.

An jenen Tagen im Juli 1998 hat Ibrahim Cmega, der Vorsitzende der Islamischen Gemeinde in Orahovac, zusammen mit den Hirten Haxhisokol Lanqi und Hysen Gjoshi beobachtet, wie die Bagger kamen. Auf einem Gelände, das damals auch als Müllplatz diente, hoben sie zwei Löcher aus. Ein Pfad führt zu diesem Ort. Auf der rechten Seite, berichtet Ibrahim Cmega, seien Folteropfer des serbischen Regimes der fünfziger Jahre begraben, hier lägen aber auch einige Opfer des Massakers vom letzten Jahr. Auf der linken Seite, dort wo die Bagger das erste Loch gegraben hätten, sind Pfosten mit Nummern zu sehen; sie sind bereits im letzten Jahr angebracht worden. „Die Markierungen gehören wahrscheinlich nicht eindeutig zu den dort liegenden Leichen“, sagt Cmega. Auch weiter hinten finden sich Spuren einer Aushebung. Dort, so Cmega, seien Tiere hineingeworfen worden, vielleicht aber auch Menschen.

Cmega zeigt auf die zweite Stelle, wo die Bagger gegraben hätten. Sie liegt etwa 30 Meter vom Pfad entfernt in der Nähe der Autostraße. Weitere Einzelheiten weiß Cmega nicht.

Jahja Shehu gehört zu den traditionellen Autoritäten der Albaner in Orahovac. Nach seiner Flucht im letzten Sommer ist er vor kurzem in die Stadt zurückgekehrt. „Indem die Existenz von Massengräbern bestritten wurde“, sagt er, „wurde auch das Massaker von damals geleugnet.“ Der Vater des knapp 50jährigen, Shehs Muhedin Shehu, wurde dabei am 21. Juli 1998 ermordet. Jahja Shehu deutet auf das Gebäude der Teqja e Sheh Myhedinit, dem Sitz des Derwisch-Ordens, dem sein Vater vorstand. „Hier hatten sich am 17. Juli Hunderte von Menschen versammelt, die Schutz suchten. Bis zum 19. Juli war die Menge auf 3.000 Menschen angeschwollen.“

Am 17. Juli 1998, so berichtet Shehu, hatte die UÇK beschlossen, die Stadt Orahovac einzunehmen; die Kosovo-Befreiungsarmee wollte erstmals eine Stadt erobern. 200 bis 300 UÇK-Kämpfer besetzten den Ort. Die UÇK forderte die Menschen auf, trotz des zu erwartenden Gegenschlags der serbischen Truppen in Orahovac zu bleiben. Der ließ nicht lange auf sich warten. Am Nachmittag des 18. Juli, so berichtet Ismet Tarak, Kommandeur der UÇK in Orahovac, wurde die Stadt von der jugoslawischen Armee, Sondertruppen der Polizei und serbischen Paramilitärs umstellt. Mit Artillerie und Panzern gingen die Serben gegen die UÇK und die albanische Zivilbevölkerung vor. Am Nachmittag des gleichen Tages gab die UÇK den Befehl zum Rückzug. Die Bevölkerung sollte in das damals noch sichere Mališevo fliehen. Vor allem der Ostteil der Stadt war jedoch bereits umzingelt. Die Menschen waren gezwungen, in der Stadt zu bleiben.

Vermummt drangen die serbischen Truppen in das Gewirr der Gassen ein, um die sich in Kellern und Häusern versteckenden Menschen aufzustöbern, berichten überlebende Bewohner. Es sei zu grausamen Szenen gekommen: Qemal Sylka sei an einen Strommast gefesselt und vor den Augen seines Sohnes verbrannt worden. Paramilitärs, serbische Zivilisten aus dem benachbarten Velika Hoca, hätten Jagd auf Albaner gemacht und dabei auch Ismail Raba getötet. Nachdem sie dessen Geschäft in Brand gesteckt hatten, hätten sie ihn in die Flammen geworfen.

Auf dem Busbahnhof, so die Augenzeugen, seien Hunderte von Männern festgehalten worden, um nach Prizren verschleppt zu werden. Im Polizeigebäude seien sie später verprügelt und gefoltert worden. Dutzende Gefangene sollen dort gestorben sein. Das berichtet Halit Krandale, der selbst eine Woche lang die Folterungen ertragen mußte. Nach Schüssen auf den Sitz des Derwisch-Ordens seien am 20. Juli die 3.000 dort wartenden Menschen in Panik geraten und in das Maschinengewehrfeuer der Serben gelaufen. Scharfschützen hätten von den Dächern geschossen.

Isen Sokolji berichtet, vor dem Haus seiner Familie hätten tote Frauen und Kinder gelegen. Der 30jährige deutsche Staatsbürger, der aus Orahovac stammt, war Anfang Juli 1998 angereist, um die Papiere für die Ausreise seiner Verlobten zu organisieren. Er wollte sie nach der Hochzeit mit nach Deutschland nehmen.

Isen Sokolji ist der Mann, der gegenüber der taz von 567 Toten sprach. „Es gab damals so viele Tote, viele Menschen waren vermißt, wir glaubten, daß sie tot waren,“ sagt er heute. Der Chef der Menschenrechtskommission der Stadt, Dr. Mehmed Cena, sagt, bisher sei der Tod von 150 Menschen dokumentiert, es gebe aber eine Dunkelziffer. Genaueres könnten nur die Totengräber von damals wissen.

Einer dieser Totengräber ist Shefki Salihu. Erst nach einem ängstlichen Blick bittet er in den Hof seines Hauses. Salihu war Angestellter der Müllbeseitigungsfirma „Higijena“. Er fürchtet Racheakte seiner albanischen Nachbarn, weil er nach dem Massaker half, die Toten zu vergraben. Shefki Salihu hat viel gesehen. Er kennt viele der Plätze, die jetzt von den internationalen Organisationen untersucht werden müssen. Er wird wohl einer der Hauptzeugen in Den Haag werden. Selbst habe er nicht gemordet, sagt Salihu, der zu der Volksgruppe der Roma gehört. „Ich mußte tun, was die serbischen Truppen mir befahlen.“

Damals sei er mit drei seiner Kollegen nach Orahovac gebracht worden. Überall in der Stadt und in den Straßen hätten Leichen gelegen. Es seien vier Gruppen mit je vier Totengräbern gebildet worden. 30 bis 40 Leichen hätte er damals am ersten Tag allein mit seiner Gruppe beseitigen helfen, berichtet Shalihu, in Lastwagen und auf Karren verstaut. Insgesamt fünf Tage sei er mit der Beseitigung der Leichen beschäftigt gewesen.

Die meisten anderen Totengräber seien verschwunden, sagt Salihu. Sie hätten sich wie der Direktor seiner Firma nach Serbien abgesetzt. Geblieben aber sind die Gräber, die stummen Zeugen der Verbrechen.