Das trübe Milieu der Diskomäuse

■ Proletten und Prolls prallen auf Yuppies: Das Berlin-Musical „Das Wunder von Neukölln“ in zweiter Auflage im Grips Theater

Wunder gibt es immer wieder – nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern auch mitten im Sommer. Wer die musikalische Sozialkomödie „Das Wunder von Neukölln“ im Advent verpaßt hat, erhält jetzt eine zweite Chance.

In der Neuköllner Oper war die Mär von der tapferen Supermarktkassiererin Janine Majowski und ihrem mongoloiden Baby 24mal ausverkauft. Selbst eingeborene Neuköllner, die bis dahin einen mißtrauischen Bogen um das Opernhaus im Kiez gemacht hatten, drängten nun in das Stück.

Der Autor Peter Lund und der Komponist Wolfgang Böhmer feierten einen Sieg über die Schwellenangst vor der Hochkultur. Trotzdem mußte das „Wunder von Neukölln“ schon im Januar den Spielplan zugunsten anderer Produktionen räumen.

Für die Wiederaufnahme konnte das Ensemble jetzt ins Grips Theater ausweichen. Ein passender Spielort, ist doch der soziale Brennpunkt Turmstraße nicht weit. Das ketterauchende, jogginghosentragende, arbeitslose Elend ist dort ebenso zu Hause wie in Neukölln. Perfekt spiegeln die Sprache der Figuren, Kostüme und das Bühnenbild das trübe Milieu wieder. Und bei aller Komik werden die Nöte Janines, ihres versoffenen Liebhabers, ihrer Diskomaus-Freundinnen und ihrer Familie aus wirklich hartgesottenen Zynikern ernst genommen. Wenn Janine (Christine Rothakker) ihrem Klaus gesteht, daß sie schwanger ist und als Antwort nur den verzweifelten Refrain „Mach weg!“ erhält, ist das einfach nur todtraurig. Um allzu großer Überheblichkeit vorzubeugen, ist den Prolls und Proletten auf der Bühne ein arrogantes Yuppie-Pärchen mit jeder Menge Lebenslügen im Gepäck beigesellt: der TV-Moderator Johannes und die pseudo-engagierte Journalistin Dorothea. Wer vom Clash der Kulturen mehr profitieren wird, bleibt bis zuletzt sehr spannend.

Aber nicht nur die Story, auch die Musik ist brillant – zum Beispiel der titelgebende Gospelsong oder der Koloratur-Dialog zwischen einer Flöte und der lungenkrebskranken Mutter (Silvia Bitschkowski). Überzeugende Berlin-Musicals sind selten – und schwer zu machen. In den letzten Jahren kamen „Café Mitte“ im Grips Theater und „30.60.90 Grad“ im Theater des Westens auf die Bühne. Die einsame Höhe von „Linie 1“ konnten sie aber bei weitem nicht erreichen. Dazu war nämlich ein Wunder notwendig. Das Wunder von Neukölln. Miriam Hoffmeyer

Weitere Vorstellungen vom 29. Juli bis 1. August, 6.– 8. 8., 11. – 15. 8., 18. – 22. 8. und 25. – 29. 8., 20 Uhr, Grips Theater, Altonaer Str. 22, Tiergarten