Eine ganz normale Familie

Nach ihrer Rückkehr haben die Krasniqis, die als erste Flüchtlinge aus Berlin ins Kosovo zurückgekehrt sind, schnell wieder Fuß gefaßt    ■ Aus Pristina Julia Naumann

Kada Krasniqi sitzt entspannt im Hof ihres Hauses und schält Kartoffeln. Diese dreißig Quadratmeter sind ihr Lieblingsort, denn im Sommer ist es hier angenehm kühl, die massiven Hauswände halten die unerträgliche Nachmittagshitze ab. Kadas langes, feuerrotes Haar leuchtet in der Sonne.

„Nach unserer Rückkehr mußte ich sofort meine Haare färben“, sagt sie und strahlt. „In Berlin sind sie grau geworden, ich sah aus wie eine alte Frau.“ Die 63jährige nimmt die Gießkanne und wässert ihren Rosengarten. Die Blumen in dem kleinen Garten blühen üppig. Nichts deutet darauf hin, daß Kada Krasniqi drei Monate nicht in Priština war, sondern in Berlin, wo nur ein paar Geranientöpfe auf dem Fenstersims ihres Heimzimmers standen.

In der Rruga Podujeva, die im Norden Prištinas auf einem Hügel im Ortsteil Vranjevc liegt, hat sich seit Beginn der Nato-Angriffe Ende März nicht viel verändert. Die Häuser in der schmalen, kopfsteingepflasterten Gasse stehen noch, auch die beiden dreistöckigen Häuser der Eltern und Großeltern Krasniqi. Die Wände und Dächer, die Fenster und die braunen Holztüren, die auf den Hof führen, sind unversehrt.

In den beiden geräumigen Wohnungen stehen Betten, Tische, Stühle an ihren angestammten Plätzen, sogar der Fernseher und die Satellitenschüssel sind noch da. „Wir konnten alle Türen abschließen, als wir flüchten mußten“, sagt Florentina, die 15jährige Enkelin von Kada Krasniqi, in fließendem Deutsch. „Wir haben Glück gehabt.“

Dabei hatten die Krasniqis, die als erste Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo vor zwei Wochen Berlin wieder in Richtung Heimat verließen, Chaos und Zerstörung erwartet. Nach dem Einmarsch der KFOR-Truppen versuchte Vater Nersat jeden Abend, Freunde und Bekannte in Priština anzurufen. Er mußte stundenlang in der Telefonzelle im Berliner Flüchtlingsheim wählen, manchmal brach die Verbindung nach wenigen Sekunden wieder ab. Das Telefonnetz im Kosovo ist durch die Bombardierungen schwer beschädigt worden, Nersat konnte am Telefon nicht verstehen, was in der Rruga Podujeva nach seiner Flucht genau passiert war. Er erfuhr nur, daß sein Haus noch stünde, aber niemand konnte ihm etwas über den Zustand der Wohnungen sagen.

Die spärlichen Informationen reichten dem 39jährigen, um mit seiner Familie und zehn riesigen Taschen über Dresden nach Skopje zu fliegen und von dort weiter mit einem UNHCR-Bus für Rückkehrer nach Hause. Im Gepäck hatten sie Kleidung, Decken und Handtücher, aber auch ein Stromaggregat, das der Vater vorsichtshalber auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Die Familie wollte auf alles gefaßt sein. Nersats Cousin Izmet Krasniqi, seine Frau Elfije und die vier Kinder sind noch in Berlin. Ihr Haus in Priština, erzählt Florentina, sei geplündert worden, aber es steht wenigstens noch.

Katastrophal sieht es dagegen aus, wenn man Priština verläßt. Die meisten Häuser in den Dörfern rund um die Haupstadt sind zerstört, die Flüchtlinge aus den makedonischen und albanischen Lagern sind dennoch zurückgekommen. Einige campieren in weiß-blauen UNHCR-Zelten vor den Ruinen, andere sind bei Freunden untergekommen. Viele sind auf Lebensmittelspenden angewiesen.

Auch Familie Krasniqi bekommt Brot, Schinken, Nudeln, manchmal etwas Öl und Zuckervon den Hilfsorganisationen. „Mir ist das etwas peinlich“, sagt Florentina, „denn uns geht es doch schon wieder so gut.“

Die Regale in den Geschäften sind voll, an den Straßenecken werden Wassermelonen, Pfirsiche, grüne Paprika und Benzin in Wasserflaschen angeboten. In den Werkstätten in den verwinkelten Straßen der Altstadt wird gezimmert, geschweißt und gehämmert.

Am Abend flanieren die Menschen auf dem Korso, der „Amüsiermeile“ von Priština, sie haben sich dafür feingemacht. Florentina darf jetzt öfter dorthin, sie schleckt Eis und unterhält sich mit ihren Freundinnen, die sie drei Monate nicht gesehen hat. Nur die vielen Panzer und die schwerbewaffneten Soldaten der KFOR erinnern noch an den Krieg.

Florentinas Mutter Naxhije ist begeistert: „Ich fühle mich das erste Mal seit 1989 wieder sicher. Ich kann spazierengehen, ohne daß ich Angst habe.“ 1990, nachdem die Autonomie für das Kosovo von der jugoslawischen Regierung aufgehoben wurde und sich die Repressionen gegen die Kosovaren verschärften, verlor die 38jährige Naxhije ihren Job, wie so viele andere auch. Sie hatte bei der staatlichen Post in Priština gearbeitet. Ihre Stelle bekam ein Serbe.

Auch für die Kinder änderte sich das Leben. „Ich wurde ab der neunten Klasse in einem Wohnhaus unterrichtet“, erzählt Florentina. Die Stunden wurden privat organisiert und mußten bezahlt werden, eine staatliche Schule durfte sie nicht mehr besuchen.

Naxhije zieht heftig an ihrer Zigarette und schenkt sich ein Tässchen türkischen Kaffee ein. Sie wirkt ernst und nachdenklich, wenn sie über die vergangenen Jahre in Priština spricht. Mit Serben könne sie nicht mehr zusammenleben, nach all dem, was passiert sei, sagt sie. Dann hellt sich ihre Miene wieder auf: „Ich hoffe, daß ich bald wieder bei der Post anfangen kann.“

Jeden Tag fährt sie mit dem Bus in die Innenstadt und meldet sich bei einer Art Rumpfverwaltung der Post. Die UN-Übergangsverwaltung hat angeordnet, daß sich jeder Jobsuchende, ob Albaner oder Serbe, auf die neuen Posten in Behörden und Verwaltung offiziell bewerben muß. „Ich würde auch erst mal ohne Lohn arbeiten“, sagt sie. „Ich bin mir sicher, daß ich bald wieder dort anfangen kann.“ Es gebe nicht mehr viele Serben in der Behörde, die meisten haben die Stadt verlassen.

Naxhije steht auf und holt sich eine Zigarette aus dem Haus, Nersat tritt auf den Hof. Er lacht fröhlich, heute hatte er seinen ersten Arbeitstag. Im Schatten der Mauer trinkt Nersat ein Glas Limonade und streichelt den kleinen, weißen Hund, der während der Abwesenheit der Krasniqis von einem Nachbarn gefüttert wurde. Stolz zeigt Nersat ein kleines, blau-weißes Plastikkärtchen vor, das ihn als Fahrer für die OSZE, die internationale Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, ausweist. „Schon in Berlin war ich mir sicher, daß ich nach der Rückkehr in Priština schnell einen Job bekommen würde“, sagt er. Fahrer, die Englisch und Russisch sprechen, würden nach dem Krieg mehr denn je gebraucht.

Neben der KFOR sind die Hilfsorganisationen, die politischen Beobachter und Journalisten die wichtigsten Arbeitgeber. Vor dem Krieg arbeitete Nersat, der eigentlich Taxifahrer ist, für die OSZE. Er verdiente damals 25 Mark am Tag, jetzt ist es mehr als das Doppelte: 55 Mark. An seinem Hosenbund baumelt ein nagelneues Handy. Zwar funktioniert das Mobilfunknetz noch gar nicht, doch Nersat will seinen neuen Wohlstand zeigen.

Die Krasniqis waren auch vor dem Krieg nicht arm. Florentinas Tante und Onkel leben schon seit Jahren in Nürnberg. Sie haben eine Arbeitserlaubnis und unterstützten die Familie in Priština – ein Versorgungsmodell, von dem viele kosovarische Familien leben.

Auch Florentina hatte schon vor dem Krieg Kontakt mit Deutschland: Sie bekam von ihrer Tante ab und zu die Bravo geschickt, die Wände ihres kleinen Zimmers sind mit Postern der Kelly-Familie und Thake That vollgepflastert. Außerdem schaute Florentina täglich deutsches Fernsehen über Satellit, Seifenopern. Deshalb spricht sie fließend Deutsch, Unterricht hatte sie nie. Doch zurück in Priština, mag Florentina die Serien nicht mehr sehen. „Es erinnert mich so sehr an Berlin“, sagt sie, und es schießen ihr Tränen in die Augen.

Florentina erzählt von der Flucht. „Es war 16 Uhr, und ich hatte gerade eine spanische Soap-opera geguckt. Mein Vater rief an und sagte, daß die Serben die Häuser in unserem Viertel räumen würden.“

Rund die Hälfte der kosovarischen Einwohner floh in den letzten Märztagen aus Priština. Mutter, Kinder und Großeltern nahmen jeder eine kleine, mit dem Nötigsten vorgepackte Tasche, schlossen die Haustüren ab und trafen den Vater, der das Auto hatte, im Zentrum der Stadt. Sie versteckten sich eine Woche in verschiedenen Dörfern und im Wald, bis sie nach Makedonien entkommen konnten. „Wir waren auf die Flucht vorbereitet“, sagt Florentina. „Ich habe immer davon geträumt, mal nach Deutschland zu fahren. Aber doch nicht als Flüchtling.“

In einigen Wochen soll die Schule wieder beginnen, in einem richtigen Schulgebäude, nicht mehr in einer Wohnung. Bis dahin verbringt Florentina ihre Zeit mit Merita. Ihre beste Freundin war auch zwei Monate in Deutschland, ohne daß die beiden voneinander hörten. Kurz nach Florentinas Rückkehr kam auch Merita zurück. Die beiden sitzen auf dem Hof und lesen die Bravo, die Florentina aus Deutschland mitgebracht hat. „Wir sind so froh, daß wie uns wiedergefunden haben“, sagt Merita und räkelt sich auf den warmen Steinen. „Geh aus der Sonne“, sagt Florentina mit gespieltem Ernst. „Nur in Deutschland läßt man sich bräunen. Im Kosovo ist immer noch Blässe vornehm.“

„Nach unserer Rückkehr mußte ich meine Haare färben. In Berlin sind sie grau geworden, ich sah aus wie eine alte Frau.“