Ökolumne
: Gefährdeter Riese

■ Japans Konjunktur erholt sich nur langsam – auf Kosten der Arbeiter

Derzeit herrscht eine fast babylonische Verwirrung, wenn es um Wirtschaftszahlen aus Japan geht. Allein diese Woche sind drei Indikatoren zur Konjunktursituation erschienen, die sich diametral widersprechen.

Gestern wurde bekannt, daß die Arbeitslosigkeit im Juni mit 4,9 Prozent auf einen historischen Rekord seit dem Beginn der Erhebungen im Jahre 1953 hochgeschnellt ist. Für 3,3 Millionen Stellenlose sieht die Situation am Arbeitsmarkt trüber denn je aus. Pro 100 Arbeitssuchende sind nur gerade 46 Stellen frei. Dieser Indikator deutet auf eine Verschlechterung der Konjunktur.

Doch halt! Am Donnerstag kamen die Zahlen zur Industrieproduktion heraus. Im Juni war sie um 3 Prozent gestiegen, so schnell wie seit über zwei Jahren nicht mehr. Im Juli soll sie noch mal um ein halbes Prozent zulegen und im August gar um knapp 4 Prozent. Die starke Zunahme der Industrieproduktion ist für die meisten Volkswirte in Wertpapierhäusern das Indiz, daß sich Japan auf dem Aufwärtstrend befindet. Die Empfehlungen dieser Volkswirte wandern in die Händlerabteilungen, und da sollte sich niemand wundern, daß der Börsenindex in Tokio seit einigen Wochen Höhenluft schnuppert.

Was für Anleger gut ist, scheint ja im Zeitalter des Shareholder-values für die ganze Volkswirtschaft bekömmlich zu sein. Also auch fürs Volk. Aber das gilt nicht unbedingt: Da gibt es nämlich die nächste Zahl, die ebenfalls am Donnerstag herauskam. Im Juni brach das Durchschnittseinkommen eines japanischen Arbeiters um 2,4 Prozent ein. Das heißt die Kaufkraft der japanischen Konsumenten ist gesunken, was den weiterhin stagnierenden Konsum im Inselstaat zu erklären scheint. Also doch keine Aufwärtsbewegung für die japanische Wirtschaft.

Für diese pessimistische Einschätzung kommen uns gleich zwei andere Indikatoren in die Quere. Einer besagt, daß die Einkommen, aufs Quartal hochgerechnet (April bis Juni), eigentlich um 2,4 Prozent gestiegen sind. Welch ein Widerspruch. Der Anstieg hat mit den traditionellen Lohnerhöhungen zum Beginn des Geschäftsjahres am 1. April zu tun. Gegen eine optimistische Auslegung dieser Quartalszahl spricht aber eindeutig der Rückgang der Kleinhandelsverkäufe um 2,2 Prozent im Quartal.

Ein nettes Verwirrspiel, nicht? Wir könnten fortfahren und kämen von der hundertsten zur tausendsten Wirtschaftszahl, und sie würden sich ständig widersprechen. Da hilft nur eines: Wir gewichten. Aus Sicht der Angestellten interessiert die Arbeitslosenrate, die Zahl der freien Stellen und die Kaufkraft. Natürlich freuen sich japanische Angestellte über eine höhere Produktionsrate, wissen aber auch, daß die mehr mit gesteigerter Effizienz zu tun hat und daher keine neuen Jobs geschaffen worden sind.

Schließlich vergeht kein Tag in Tokio, an dem nicht irgendeine Firma – zunehmend heimlich – Stellenstreichungen beschließt. Diese Zahlen tauchen dann in Analystenberichten für Anleger auf und werden dort natürlich positiv aufgenommen. Eine Zahl ist bekannt, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, daß Börsenkurse und die Arbeitslosenraten in Tokio steigen. Im laufenden Jahr fahren die Industriebetriebe ihre Kapitalinvestitionen um durchschnittlich 8 Prozent zurück. Das hilft den Betriebsgewinnen auf die Beine, schafft aber mehr Arbeitslose.

Als Retter in der Not springt derzeit der Staat ein. Schon im vergangenen Oktober verabschiedete die Regierung ein Stimulierungspaket im Umfang von 27 Billionen Yen (440 Milliarden Mark), das die Wirtschaft von Januar bis März um 1,9 Prozent wachsen ließ. An dieser Zahl zweifeln Skeptiker schwer, behaupten gar, sie sei manipuliert, aber sie ist angesichts der ausgegebenen Steuermilliarden plausibel. Die wichtigere Frage ist, ob der Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen (BIP) auch im Zeitraum vom April bis Juni derart gewachsen ist, was heißen würde, daß Japan auf Erholungskurs wäre.

Daran zweifelt die Regierung in Tokio selbst. Sie spricht bereits von einem neuen Stimulierungspaket. Diesmal sollens etwa 9 Billionen Yen (140 Milliarden Mark) sein. Das heißt, daß der Inselstaat ohne öffentliche Stimulierung noch kein Wachstum produziert. Welche Zahl sollen wir nun gewichten? Am besten den Betrag des nächsten Konjunkturpaketes. Wo befindet sich also die japanische Wirtschaft? Auf einem staatlich finanzierten Erholungskurs. Sie wird mit Steuermilliarden einen Steilhang hochgeschoben – wenn auch mit einem Warnschild am hinteren Ende: „Absturzgefahr“. André Kunz