Das Phänomen Slobodan Milosevic

Slobodan Miloševic ist ein weitgehend unbeschriebenes Phänomen. Es gibt noch keine Studie, die sich dem Belgrader Potentaten umfassend widmet. Das ist insofern erstaunlich, da der Aufstieg Miloševic' genügend Rätsel aufgibt. Wie er, der graue Apparatschik aus der KP-Nomenklatura es schaffte, sich zum Fürsprecher des Nationalismus zu machen, während alle anderen KP-Führer in Osteuropa aus Angst vor dem revoltierenden Volk einfach abdankten, ist durchaus eingehender Betrachtungen wert.

Robert Thomas, ein britischer Historiker, der lange Zeit in Belgrad zubrachte, hat nun zwar kein intimes psychologisches Porträt vorgelegt, doch einen minutiös recherchierten Report: Serbia under Milosevic.

Die serbische Tragödie lässt sich am besten von ihrem Ausgangspunkt entschlüsseln. Weil sich in allen anderen osteuropäischen Ländern die KP-Führer an ihr System bürokratischer Herrschaft klammerten, wurde die demokratische Opposition zum Agenten des „antibürokratischen Aufstandes“. In Serbien dagegen machte sich Miloševic selbst zum Führer der „antibürokratischen Revolution“, indem er sie als „einen populistischen Kreuzzug“ (Thomas) anlegte. Er überwand die allen Apparatschiks eigene Angst vor dem Volk – und machte sich zum Fürsprecher dessen niedrigster Instinkte.

An dieser Stelle müsste eine psychologische Studie anschließen, die Thomas erklärtermaßen nicht zu schreiben plante. Denn dass die Wende vom bürokratischen zum populistischen „Balkan-Strong-Man“ auch eine biografische Zäsur im Leben Milosevic' markierte, ein Sichüberwinden, liegt auf der Hand.

Elemente für eine solche Studie liegen bislang nur in Bruchstücken vor. Slavoljub Djukic' in Serbien erschienene Biografie ist in keine der gängigen „Weltsprachen“ übersetzt, ansonsten gibt es biografische Essays des Briten Tim Judah (erschienen in The New York Review of Books) und des Belgrader Historikers und Publizisten Aleksa Djilas (Foreign Affairs).

Robert Thomas nähert sich dem „Phänomen Miloševic“ in Form der politischen Chronik. Miloševic' nationalistische Wende färbte die gesamte politische Szenerie neu ein. Die Schwäche der Opposition rührt aus dieser Konstellation. Gegenüber der althergebrachten Form kommunistischer Herrschaft okkupierte Miloševic selbst die Rolle des Widerstandes. Er wurde in einem gewissen Sinn zum Zerstörer Serbiens, weil er ein Reformer war. So mobilisierte er nicht nur den Nationalismus, um demokratische Aspirationen zu unterlaufen, sondern auch den Hass des flachen Landes „auf die Kultur der Hauptstadt“. Weil er es schaffte, sich zum populären Führer aufzuschwingen, fehlte der Opposition ihrerseits die Verankerung im Volk. Die verschiedenen oppositionellen Strömungen wurden zu politischen Sekten, deren Funktionäre sich mit viel Energie gegenseitig bekämpften und deren Eitelkeiten Miloševic schmeichelte, wann immer es ihm nützlich war.

Die Technik der Macht beherrscht er ohnehin perfekt. Kommt er in Bedrängnis, provoziert er eine neue Krise, um sich zum Retter zu stilisieren. Seine öffentlichen Auftritte werden rar, denn er weiß: Wer sich selten zeigt, wird von einer mythologischen Aura umweht. Das hat er von Stalin gelernt. Robert Misik Robert Thomas: „Serbia under Milosevic Politics in the 1990s“. Verlag Hurst, London, 443 Seiten, 14.95 £