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: Die Nackten und die Roten Von Wladimir Kaminer

Seit zehn Jahren bricht in den deutschen Medien, immer wenn es richtig Sommer wird, eine heftige Debatte über das Verhalten von Ost und West am Nacktbadestrand aus. Dort spaltet sich angeblich die Nation. Ost steht für Nacktbaden, West für das Gegenteil, obwohl ursprünglich alles ganz anders war.

Historisch entstand die deutsche Freikörperkultur im Zusammenhang mit der linken bzw. der Jugendbewegung. Nach 1945 hatte sie im Osten zunächst einen Vorlauf, speziell auf Usedom beteiligten sich bald derart viele Parteimitglieder am Nacktbaden und sogar an Nackt-Demonstrationen, dass diese Bewegung von oben schließlich geduldet werden musste. Ähnlich war es in Westdeutschland, wo das Nacktbaden von der Studentenbewegung durchgesetzt wurde. In Berlin am Grunewaldsee rückte 1969 immer noch die Polizei an, auch neugierige Türken umlagerten dort die studentischen Körper.

Ich kam in Deutschland erst nach der Wiedervereinigung an und kann das spezifische Verhalten von Ost und West heute kaum unterscheiden. Doch auch für mich wird am Nacktstrand vieles sichtbar. Das Entkleiden des Körpers ist wie ein Ausziehen der Kultur. Am FKK-Strand kann man beobachten, mit welcher soziokulturellen Erbschaft die Deutschen das 20. Jahrhundert verlassen.

Die entblößten Körper lassen die gesellschaftliche Problematik der Zukunft erkennen. Viele nackte Mütter mit nackten Kindern spielen zusammen im Sand. Diese Kinder werden sich nie für die Anatomie des menschlichen Körpers begeistern, sie haben sie schon vor der Schule auswendig gelernt – eine nackte Frau bedeutet für sie nicht mehr als ein nackter Fisch oder eine nackte Katze.

Die Mütter und Kinder werden von Männern mit dunklen Brillen beobachtet – von Voyeuren, die sich sehr wohl noch für Anatomie interessieren. Gleich daneben liegen ihre Antipoden – die Exhibitionisten beiderlei Geschlechts. Man erkennt sie daran, dass sie keine Minute ruhig liegen können. Beide Gruppen weisen auf eine Ökonomie der Zukunft hin, die auf Dienstleistungsverhältnissen basiert: Der eine zeigt, der andere schaut zu.

Die überzeugten Nudisten erkennt man an ihrer streifenlosen Bräune, die der Farbe belgischer Schokolade ähnelt. In ihrer Nacktheit scheinen die Klassenunterschiede aufgehoben zu sein, sie sehen fast angezogen aus, als ob ihre Haut ihre Arbeitskleidung wäre.

In der neuen Freizeitgesellschaft verläuft der Klassenkonflikt wohl weniger zwischen Ost und West als zwischen schamlosen Nudisten und tugendhaften Badehosenträgern. Am Liepnitzsee beobachteten meine Westfreunde neulich ein Ostehepaar mit zwei Kindern, das aus dem Wald kam. Es waren Nacktbader, aber sie hatten eine 15-jährige Tochter, die sich weigerte, ihren Bikini am See auszuziehen. Trotz ihres Geschreis und ihrer Tränen zwangen die Eltern sie dazu. Die Westler schauten diesem FKK-Familiendrama genüsslich zu.

Eine neue Eskalationsstufe bahnt sich in Berlin an: Dort wollen einige CDU-Politiker zusammen mit den Vorsitzenden von türkischen Religionsverbänden die frei laufenden Titten im Tiergarten verbieten, auch die Love Parade soll gezüchtigt werden.

Bei uns in Russland hat man das Problem so gelöst: In den Sommerbädern wie Jalta liegen die Urlauber tagsüber mit Anzügen am Strand, doch nachts lassen sie alle Hüllen und Hemmungen fallen: Wer ohne Tripper nach Hause zurückkehrt, hat seine Zeit und sein Geld im Süden vergeudet.