■ Woran können Chinesen heute noch glauben? Falun Gong verdeutlicht Scheitern und innere Widersprüche der Kommunisten
: Atemübungen als Hauch der Revolution

„Wer keine Angst vor Vierteilung hat, wird sich nicht scheuen, den Kaiser vom Pferd zu zerren.“ Die Bedeutung dieses Zitats aus der klassischen chinesischen Literatur muss man Chinas Kommunisten nicht erklären. Sie haben diesen Satz während der Kulturrevolution oft genug zitiert und wissen, dass auch ihr Ende bevorsteht, wenn das Volk die Angst verliert.

Das ist in diesem Jahr schon zweimal passiert. In einem Land, in dem Dissidenten äußerst hart bestraft werden, tauchten Ende April plötzlich 10.000 Falun-Gong-Anhänger im Pekinger Regierungsviertel auf und demonstrierten dort schweigend, aber unüberhörbar. Vor knapp zwei Wochen gingen erneut in 30 Städten Chinas 30.000 Anhänger der Sekte auf die Straße. Sie verlangten die Freilassung verhafteter Führer.

Spätestens da wurde die buddhistisch-taoistische Sekte, die sich gern als harmlose Fitness- und Meditationsbewegung darstellt, für die Regierung zur Bedrohung. Falun-Gong-Gründer Li Hongzhi behauptet, er pflanze seinen Anhängern ein sich drehendes Gebotsrad (“Falun“) in den Unterleib, das ihnen kosmische Energie verleihe. Was immer man von diesem esoterischen Zauber halten mag: Die auf Qigong-Atemtechniken basierenden Falun-Gong-Übungen verhelfen offenbar etlichen Menschen zu so viel Kraft, dass sie die Regierung nicht mehr fürchten. Atemübungen werden zum Hauch der Revolution.

Chinas Regierende dürften sich mit Schaudern an die zahlreichen Rebellionen in der Geschichte des Reichs der Mitte erinnern, in denen sich Anhänger Qigong praktizierender Sekten für unverwundbar hielten. Sie brachten Dynastien zum Einsturz oder warfen sich wie vor hundert Jahren beim Boxeraufstand den waffentechnisch überlegenen ausländischen Invasionstruppen furchtlos entgegen. Noch bedrohlicher muss für die KP-Führer sein, dass sogar zahlreiche ihrer Mitglieder aktive Anhänger von Falun Gong sind. Ein Vizedivisionschef in der Behördenaufsichtskommission der Zentralregierung und ein pensionierter Beamter des Eisenbahnministeriums sollen den Aprilprotest organisiert haben.

Inzwischen wurde Falun Gong in China mit der Begründung verboten, die Bewegung sei eine “Gefahr für die soziale Stabilität“. Stabilitätsgefährdend ist wohl eher das Verbot von Falun Gong als die Bewegung als solche. Ihre Anhänger sind meist mittleren Alters oder älter und haben nichts gemein mit den jugendlich ungestümen, eher unreifen Studenten, die vor zehn Jahren die Demokratiebewegung bildeten und für konservativ denkende Menschen die Angst vor dem Chaos verkörperten. Dagegen vertreten die Anhänger von Falun Gong ihrerseits traditionelle konservative Werte und verhalten sich - da selbst stabilitätsorientiert - äußerst genügsam und diszipliniert. Falun Gong verspricht spirituellen Halt in Zeiten des schnellen gesellschaftlichen Wandels und der sozialen Brüche, die vielen äußerst bedrohlich erscheinen. Woran können Menschen in China heute noch glauben? Sicher nicht mehr an die Kommunistische Partei. Deren Mitglieder haben die einstigen Ideale längst verraten und widmen sich lieber Deng Xiaopings Motto: „Reich werden ist ruhmvoll.“ Früher, zu Zeiten des Bürgerkriegs, in den dreißiger und vierziger Jahren war die KP im Vergleich zur korrupten und zunehmend degenerierten regierenden Kuomintang selbst eine starke moralische Kraft.

KP-Kader galten als disziplinierte Vorbilder, die ihre Ideale lebten und nicht dem Materialismus frönten. Diese Rolle beansprucht Falun Gong heute für sich. Zugleich füllt Falun Gong wie andere Religionen und Sekten, die derzeit in China boomen, das von der KP hinterlassene ideologische Vakuum und bietet so scheinbar einfache Lösungen. Wie andere Qigong-Bewegungen ist Falun Gong mit seinen körperlichen Heilsversprechen zudem attraktiv in Zeiten, in denen sich viele Menschen sorgen, wegen zunehmender Privatisierung im Gesundheitswesen und der wachsenden Arbeitslosigkeit schon bald die Arztkosten nicht mehr bezahlen zu können.

Gerade die Harmlosigkeit der äußeren Erscheinung der Anhänger, der Rückgriff auf in China lange verwurzelte Praktiken und die von Falun Gong verkörperte starke nicht materialistische Moral sind für die KP gefährlich. Denn dies hält den Kommunisten den Spiegel vor: Wie muss es um eine Regierung bestellt sein, die harmlosen älteren Menschen spirituelle Atemübungen verbietet, die auf traditionellen Techniken und idealistischen Moralvorstellungen beruhen?

Das Verbot von Falun Gong ist ein Fehler der chinesischen Regierung und ein deutliches Zeichen ihrer Schwäche und großen Angst. Doch so harmlos, wie Falun Gong sich gern darstellt, ist die Sekte nicht. Sie wiederholt wie ein Mantra, sie sei unpolitisch und nicht fest organisiert. Das mag auch für die große Mehrheit ihrer Anhänger zutreffen. Doch wer es in China schafft, ohne die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes zu erregen, im Zentrum der Macht zu demonstrieren und später landesweit Zehntausende zu mobilisieren, zeigt nicht nur außergewöhnliche organisatorische und politische Fähigkeiten, sondern auch den Willen, davon Gebrauch zu machen.

Jede religiöse Gruppe sollte das Recht haben, sich für ihren Glauben einzusetzen. Doch diese Machtdemonstration nicht als politischen Protest, sondern nur als „Klarstellung“ bezeichnet sehen zu wollen ist entweder politisch völlig naiv oder erweckt den Verdacht versteckter Motive. Zu denken gibt auch der Druck, der bereits auf einzelne Journalisten ausgeübt wurde, die in ihrer Berichterstattung über Falun Gong wenig schmeichelnde Worte fanden.

Neben dem totalen Verbot reagierte Chinas Führung mit einer propagandistischen Breitseite und einem Rückgriff in die Mottenkiste der Kulturrevolution. Führenden Anhängern droht „Umerziehung“, Parteikader müssen Falun Gong öffentlich abschwören und andere religiöse Gruppen das Verbot pflichtschuldig gutheißen. Der Haftbefehl für den in New York lebenden Falun-Gong-Gründer Li Hongzhi ermöglicht es der KP-Führung, das Ausland für das Problem verantwortlich zu machen. Da sich die USA erwartungsgemäß weigern, den Guru auszuliefern (wozu es auch keine rechtliche Grundlage gibt), könnte Peking versucht sein, die urchinesische Sekte als amerikanische Verschwörung darzustellen.

Es ist offen, ob künftig aus dem mit Atemübungen verbundenen kosmischen Hokuspokus eine Revolution wird. Doch mit der in den Untergrund gedrängten Bewegung und der Verprellung und Politisierung zahlreicher Qigong-Anhänger dürfte in China das oppositionelle Potential stärker werden - und damit der Veränderungsdruck. Sven Hansen

Zahlreiche Mitglieder der Kommunistischen Partei sind Anhänger von Falun GongDas Verbot der Sekte ist ein Zeichen der Schwäche der chinesischen Regierung