Hier wohnt die SPD

Was geschehen kann, wenn man in einem Baugebiet bauen will und die Nachbarn Gemeindevertreter sind  ■   Aus Stahnsdorf Heike Haarhoff

ehn zu acht. Iris Girke ballt die Faust. Als habe der Wahlleiter höchstpersönlich das Abstimmungsergebnis zu verschulden.

Zehn Vertreter der Gemeinde Stahnsdorf haben dem parteilosen Bürgermeister Horst Muhsold, 60, soeben in geheimer Wahl ihr Misstrauen ausgesprochen. Aber acht wollen, dass Muhsold bleibt. Und die reichen. Dafür, dass eine Zweidrittelmehrheit, die zur Abwahl des Gemeindeoberhauptes nötig wäre, nicht zustande kommt. Und dass, obwohl im Haushalt des 8.500-Seelen-Dorfes nahe Potsdam ein Loch von 70 Millionen Mark klafft. Obwohl 70 Prozent des Gewerbegebietes, das verkehrsgünstig und mitten im neuen Berliner Speckgürtel liegt, seit Jahren angeblich nicht zu vermarkten sind. Obwohl niemand weiß, mit welchen Mitteln die neue Kindertagesstätte eingerichtet werden und wer den Bau der zweiten Grundschule finanzieren soll. Obwohl die Gemeinde zahlungsunfähig ist und ihr deshalb die Zwangsverwaltung droht. Und obwohl sich alle 18 Gemeindevertreter fraktionsübergreifend und mit der Bürgerin Iris Girke und den vielen anderen Stahnsdorfern im Zuschauerraum des Gemeindesaals einig sind, daß ihr seit fünf Jahren amtierender Bürgermeister zunehmend „führungsschwach“ und „unfähig“ sei.

Der Stahnsdorfer CDU-Chef Gerhard Enser, der das alles vorträgt, springt plötzlich von seinem Stuhl auf und stelzt wie ein Schauspieler bei der Premiere durch den Sitzungssaal. Um alles zu geben. Vor allem seiner Erregung mehr Ausdruck: „Das Chaos und den Finanzruin, die eigene Verwaltung, die Verstöße gegen die Gemeinde- und Haushaltsordnung – nichts, aber auch gar nichts kriegt der Herr Bürgermeister in den Griff!“ Nicht mal die Bewilligung einer popeligen Baugenehmigung für ein Einfamilienhaus, fügt Iris Girke leise hinzu. Weswegen ihrer Familie demnächst der finanzielle Ruin droht. Weswegen sie Stahnsdorf, dieses Mistkaff, an diesem Abend gerade mal wieder verfluchen könnte.

Ein lauer, ruhiger Juliabend. Am denkmalgeschützten Dorfanger spazieren Ausflügler aus Berlin. Über den Teltowkanal rudern Eltern ihren Nachwuchs, und auf dem Südwestfriedhof suchen Neugierige nach einer Grabplatte, die vor Schlichtheit glatt zu übersehen ist. Nur die Inschrift hat im bald 50 Jahre währenden Kampf mit der Verwitterung die Oberhand behalten: Elisabeth Baronin von Ardenne, 1853 bis 1952. Hier also liegt die Frau, deren Geschichte von Liebe und Scheidung in Theodor Fontanes „Effi Briest“ nachzulesen ist. Der Friedhof, weiß sein Verwalter, hat Stahnsdorf reich gemacht. Als das flächenarme Berlin händeringend nach Begräbnisstätten suchte, tauschten die geschäftstüchtigen märkischen Bauern ihre Äcker gegen gutes Geld und einen Bahnanschluss. 100 Jahre ist das her. Zu lange, um daraus Mut zu schöpfen, dass es Stahnsdorf wieder einmal besser gehen könnte.

Stumm, aschfahl im Gesicht, aber gefasst lässt der Amtsdirektor drinnen im Saal die Schimpftirade über sich ergehen. Er ahnt: Niemand will „den heruntergewirtschafteten Saustall“ (ein Verwaltungsmitarbeiter) in diesem Zustand übernehmen, schon gar nicht die SPD, die die größte Fraktion stellt und sich nach langem Hin und Her gegen die Abwahl ausspricht. Deswegen bleibt der Bürgermeister auch nach diesem Juliabend im Amt. Deswegen zerknüllt Iris Girke vor Wut ein Stück Papier.

„Das wars“, sagt die junge Frau dann und verläßt den Saal. „Das war der beste Einblick dafür, zu verstehen, was hier abgeht – im Großen wie im Kleinen.“ Iris Girke ist erst vor einem guten Jahr nach Stahnsdorf gezogen, als ihr Mann beruflich von Stuttgart nach Berlin wechselte. Politik verfolgte die 27-jährige Erzieherin bis dahin zuweilen im Fernsehen. Bis sie selbst „die Schikanen dieser undurchsichtigen Verwaltung“ zu spüren bekam, an deren Spitze ein Bürgermeister steht, der sich nicht durchsetzen kann und deswegen aus Sicht von Iris Girke nicht nur das Wohl der Gemeinde zu gefährden droht, sondern vor allem ihr ganz persönliches Glück.

as liegt fünf Autominuten vom Gemeindesaal entfernt in der Kirchstraße, ein ansehnliches Grundstück am Rand des schmucken Stahnsdorfer Ortskerns, und sollte längst mit einem Einfamilienhaus für sie, ihren Mann Thomas und ihre Söhne Lukas (1), und Johannes (3), bebaut sein. Sollte.

Iris Girke schleppt einen prall gefüllten Aktenordner heran. Die Geschichte eines verhinderten Hausbaus, die dort mit gewichtigen Stempeln und Aktenzeichen auf mehr als 100 Seiten dokumentiert ist, geht etwa so: Im Herbst 1998 steht das Grundstück an der Kirchstraße 20 zum Verkauf. Die Girkes interessieren sich. Ihr Architekt schlägt vor: ein freistehendes Haus im hinteren Teil des Grundstücks, möglichst weit entfernt von der Straße. Nur so ist die Fläche optimal genutzt, nur so liegen Terrasse und Garten im Süden und damit in der Sonne. Die Antwort des Amts Stahnsdorfs vom 21. Dezember kommt einem Weihnachtsgeschenk gleich: „Aus Sicht der Gemeinde Stahnsdorf bestehen keine Einwendungen gegen das von Ihnen geplante Vorhaben.“ Eine Auskunft, die im Februar 1999 Bürgermeister Muhsold erneut schriftlich bestätigt.

Die offizielle Baugenehmigung steht zwar noch aus, „aber was macht das schon“, erinnert sich Iris Girke an ihr damaliges Hochgefühl, mit dem sie bei der ersten Frühlingssonne ihre beiden Kinder in die Karre packte und ihren Wohnort in spe inspizieren ging. Den „neugierigen Fragen“ ihrer künftigen Nachbarn, die sich als die Nimke-Sliwinskis und die Tetzners vorstellten, antwortete sie „gern, ich habe mich doch so gefreut, dass wir dahin ziehen“. So erfahren die Nimkes und die Tetzners, dass ihre eigenen gepflegten Eigenheime mit den schicken roten Ziegeldächern demnächst, wenn das Haus der Girkes gebaut sein wird, nur noch in zweiter Reihe stehen und ein wenig von ihrem Panoramablick einbüßen werden. Der Baukredit ist bewilligt, der Architekt steht parat. Ihren alten Mietvertrag haben die Girkes bereits gekündigt, als Ende April das Bauamt seine bisherige Stellungnahme korrigiert: Die Familie soll ihr Haus nun doch näher an der Straße plazieren. Das entspreche der „Umgebungsbebauung“. In der unmittelbaren Umgebung grenzt kein Haus direkt an die Straße. Wohl aber ein Landschaftsschutzgebiet. Dieses, sagen Umweltschützer, verträgt keine nahen Häuser. Je weiter die Girkes also im hinteren Teil des Grundstücks bauten, desto besser. Doch die Gemeinde bleibt stur. Der Baubeginn verzögert sich. Der ganze Entwurf müsse nun geändert werden, klagt der Architekt. Die Banken verlangen Bereitstellungszinsen für den Kredit, 1.500 Mark jeden Monat. Der Nachmieter ihrer alten Wohnung läßt nicht mit sich handeln. Iris und Thomas Girke streiten sich: Weiterzuverkaufen wäre das Grundstück – angesichts der neuen baulichen Auflage – nur unter Wert.

Iris Girke schaltet die Gemeindevertretung ein – und trifft dort zu ihrer Überraschung auf ihre Nachbarn aus der Kirchstraße, Birgit Nimke-Sliwinski, SPD, und Michael Tetzner, SPD. „Ich verwahre mich dagegen, wir wollten hier irgendeinen Einfluß nehmen“, Birgit Nimke-Sliwinski klingt am Telefon fast böse. „Nie“ habe es im Vorfeld Gespräche mit Bauamt oder Bürgermeister gegeben „mit uns als direkten Nachbarn“. Auch Michael Tetzner sieht keinen Grund, weshalb er sich für befangen oder der Abstimmung hätte fern halten sollen, als in der Gemeindevertretung über die Hausgrenzen an der Kirchstraße entschieden wurde: „Eine Baugrenze ist schließlich keine Lappalie.“ Und ein „aus Sicht der Verwaltung rechtswidriges Vorhaben“, bedauert Fraktionschef Manfred Kokel, habe die SPD leider nicht unterstützen können. Mit den Stimmen von CDU, PDS, FDP und der Bürgerinitiative Stahnsdorf ergeht dennoch folgender Beschluss: Die Gemeindeverwaltung soll die Girkes – wie ursprünglich zugesagt – im hinteren Teil des Grundstücks bauen lassen. „Tja.“ Völlig unvermittelt und mit einer Wucht klappt Iris Girke die Akte zu, dass nicht ganz sicher ist, ob der gedeckte Kaffeetisch gleich mit umfällt. Bis heute weigert sich der Bürgermeister, den Beschluss der Gemeindevertretung umzusetzen. „Das geht jetzt vors Verwaltungsgericht“, sagt die Bauherrin knapp. Bis zu einer Entscheidung können Jahre vergehen.

In seiner Stahnsdorfer Amtsstube gibt Horst Muhsold bereitwillig Auskünfte. Daß er neulich nicht abgewählt wurde, stimmt ihn redselig. „Wissen Sie“, der Bürgermeister wirbt um Verständnis, „so was gibt es doch ständig. Da ist ein Neubau geplant, und da beschweren sich dann berechtigt die Bürger bei mir, die dahinter wohnen, dass sie künftig nur noch im Schatten leben“. Auch im Fall Kirchstraße? „Ja sicher. So ist es gesprächsweise diskutiert worden, und diese Bedürfnisse müssen auch beachtet werden.“ Wie denn? Er legt eine Pause ein, die Stimme wird streng: „Allerdings weise ich darauf hin, dass wir an die Rechtslage gebunden sind.“ Pause. „So wie übrigens immer“, er hat es plötzlich sehr eilig, das Thema zu wechseln, „es gibt wirklich schwerwiegendere Probleme.“

twa die gescheiterte Vermarktung des Stahnsdorfer Gewerbegebiets. Das hatte die Gemeinde Anfang der neunziger Jahre „in der Euphorie nach der Wende eben“, sagt Muhsold, erst auf eigene Kosten erschlossen. Um es anschließend zu einem überhöhten Preis von der Treuhand zu erwerben und schließlich, als die leidigen 54 Hektar nichts als Defizite abwarfen, im schöngerechneten Haushalt jahrelang schlicht nicht auftauchten zu lassen. Oder die Zahlungsunfähigkeit und die drohende Zwangsverwaltung, von der Muhsold immer noch nicht weiß, wie er sie ohne finanzielle Hilfe des Landes Brandenburg abwenden soll. Die Chancen für eine Rettung in letzter Minute stehen nicht schlecht: Am 5. September wählt Brandenburg einen neuen Landtag, und die SPD bangt um ihre Alleinherrschaft. Vorigen Donnerstag demonstrierten in Stahnsdorf der SPD-Bundestagsabgeordnete Emil Schnell und Vertreter des Landesinnenministeriums schon einmal Solidarität mit Muhsold. „Schließlich“, sagt dieser dann trotzig, „ist Stahnsdorf nicht der einzige Ort in Brandenburg mit Schwierigkeiten.“

Das stimmt. Im benachbarten Fahrland wurde schon vor mehr als einem Jahr wegen eines städtebaulichen Spekulationsskandals ein Bürgerbegehren zur Abwahl des damaligen Bürgermeisters eingeleitet. Die Landeshauptstadt Potsdam gar schickte im Januar 1998 ihren Baustadtrat in den Zwangsurlaub, weil er der Bayerischen Vereinsbank zu Grundstücken und Baugenehmigungen verholfen und die Angebote anderer Konkurrenten gezielt hintertrieben haben soll. In Marienwerder trat vor drei Jahren, als die Gemeinde mit jährlich 75.000 Mark Zinsen hochverschuldet war, der Bürgermeister aus Altersgründen zurück. Kurz darauf nahm auch der Bürgermeister von Blumberg seinen Hut: Er soll Gemeindevertretern die Akteneinsicht verweigert haben.

In Wandlitz wurde dem Amtsdirektor angelastet, einen Architektenwettbewerb ausgeschrieben zu haben, ohne die notwendige Bankbürgschaft eingeholt zu haben. Gräbendorf wählte Ende Mai 1999 seinen Vizebürgermeister ab, weil er private Investoren einer Wohnsiedlung im Dorf bevorzugt haben soll. In Perleberg trat der Vizebürgermeister freiwillig zurück, als bekannt wurde, daß er beim Bau seines Einfamilienhauses Mitarbeiter des städtischen Betriebshofs eingesetzt haben soll. Und in Teltow könnte nach der Sommerpause der parteilose Bürgermeister abgesetzt werden, weil, so der Vorwurf, er Beschlüsse des Stadtparlaments ignoriere. So ist das rund um Berlin.

Weil Brandenburg die bundesweit niedrigsten Quoren für Bürgerentscheide habe, warnte der Städte- und Gemeindebund schon vor geraumer Zeit, werde die Abwahl von Bürgermeistern geradezu zum Volkssport. Iris Girke glaubt, dass Stahnsdorf in dieser Disziplin sich gerade die entscheidende Niederlage eingehandelt hat.

Bis heute weigert sich der Bürgermeister, den Beschluss der Gemeindevertretung um-zusetzen. Den für die Girkes.