: Ob Schiene oder Straße: Indiens Verkehrssystem ist überlastet
■ Immer mehr Reisenden und höheren Frachtraten stehen immer weniger Investitionen und Reformen gegenüber
Die Indischen Eisenbahnen sind ein Symbol für die Größe des Landes, aber auch für die bürokratische Lethargie, das laxe Sicherheitsdenken und die Korruption, mit denen es sich abplagt. Indien verfügt über das längste Eisenbahnnetz der Welt – aber 85 Prozent dieses Netzes stammen noch aus der Kolonialzeit. Die Indian Railways sind mit 1.6 Millionen Angestellten der größte Arbeitgeber der Welt. Aber dies macht sie zu einem Tummelfeld für Politiker, für welche die Vergabe von Bahnjobs zum idealen Mittel des Stimmenfangs geworden ist. Qualifikationen spielen dabei oft eine kleinere Rolle als die Zugehörigkeit zu einer Partei oder einer Kaste. Und dies beschert dem Land nicht nur regelmäßig Katastrophen wie jene von Sonntagnacht, sondern den täglichen – und alltäglichen – Tod von fünfzig Menschen, die bei Bahnübergängen, kleineren Kollisionen und beim Überschreiten der Gleise sterben.
Auch am Montag waren die Züge überfüllt, und die Bahnhöfe spiegelten den üblichen indischen Mikrokosmos wider, eine Mischung von abstoßendem Dreck und freundlicher Teewärme, ein Kaleidoskop von Farben und Gerüchen, von schlafenden Bettlern und vorbeihastenden Geschäftsleuten. Die Angst vor einem Unglück mochte manchem in den Knochen stecken, aber man nahm sie mit resigniertem Gleichmut in Kauf. Wer will schon auf eine Reise verzichten, wenn er seinen Sitz Monate zuvor hatte buchen müssen?
Verglichen mit den Streckenkilometern und den transportierten Passagieren mag die Unfallzahl sogar relativ gering sein. Sie enthebt die verantwortlichen Politiker aber nicht der Verantwortung, während fünfzig Jahren ein gut eingespieltes Eisenbahnnetz für ihre Zwecke ausgenutzt zu haben, ohne dessen Überlebensfähigkeit zu stärken. Der Anteil der Eisenbahn-Investitionen ging von 75 Prozent im eersten Fünfjahresplan auf 24 Prozent im achten zurück. Dabei stiegen nicht nur die Passagierzahlen , sondern auch die Frachttransporte nahmen zu und versechsfachten sich seit 1947. Doch dieser Zahl stehen mangelnde Investitionen gegenüber. Die Zahl der Lokomotiven stieg nur um das Doppelte und die des Wagenmaterials um den Faktor 2.5. Dabei subventionieren die Frachtpreise die Kosten des Personenverkehrs, der schwer defizitär ist. Während die Billettpreise aus politischen Gründen kaum angetastet werden, erhöhten sich die Frachtpreise seit 1980 um 600 Prozent. Die Quittung blieb nicht aus: Der Frachtverkehr wanderte auf die Straße ab, wo heute zwei Drittel der Fracht transportiert werden – 1947 waren es noch zehn Prozent gewesen.
Dass nicht noch mehr Güter auf Lastwagen transportiert werden, liegt einzig daran, dass sich das Missmanagement der Eisenbahnen im Sektor Straße wiederholt. Das Land mit seiner knappen Milliarde Menschen und der weltweit zehntgrößten Industriekapazität hat immer noch kaum mehr als 300 Kilometer Autobahn. Eine Fahrt auf dem Bombay-Delhi-Highway, der wichtigsten Verkehrsader Indiens, zeigt wie bei den Eisenbahnen das Bild eines Verkehrssystems, das noch weitgehend die gleichen (und gleich großen) Trassen nutzt, welche die Briten gebaut hatten.
Mangelnde Investitionen und Reformen sowie die politische Manipulation des Transportwesens führen zu einer Überlastung des Systems, welches für Unglücke wie jenem von Gaisal verantwortlich ist. Was immer die konkrete Ursache der Katastrophe sein mag – Verspätung des einen Zugs, Ausfall einer neuinstallierten Signalanlage, Ausbildungsstand und Stress des Personals, zwei überfüllte und lange Zugkompositionen –, es ist ihre Kumulation, welche die große Regelmäßigkeit erklären, mit der in Indien solche Unglücke eintreten. „Unsere Standards sind so gut und so schlecht wie jene des Landes“, erklärte der frühere
Eisenbahnchef M. Ravindran nach der Katastrophe im November 1998. Ein Unternehmen, das wie kein anderes die Vielfalt, Mobilität und Dichte Indiens spiegelt, muss in Kauf nehmen, dass es ebenso stark von den stresshaften Lebens- und Arbeitsbedingungen eines Landes geprägt wird, das mit Bevölkerungsdruck, Korruption und einem schwachen politischem Management immer weniger zurechtkommt.
Bernard Imhasly, Delhi
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