: Letzte Hoffnung für Babylon
Über drei Millionen Menschen folgen dem grünen Stern: Tausende Esperanto-Bewegte treffen sich in Berlin zu ihrem 84. Weltkongress. Hier wird sich einfach verständigt und „Pipi Strumpolonga“ gelesen ■ Von Martin Ebner
Soll ausgerechnet im Berliner Kongresszentrum die islamische Weltrevolution ausgerufen werden? Am Sonntag sah es zunächst ganz so aus: Überall waren kleine grüne Sterne zu sehen, eine riesige grüne Fahne flatterte im größten Saal des ICC, davor standen rund 2.600 Menschen und sangen die Hymne „La Espero“. Auch uneingeweihte Besucher erkannten aber rasch, dass es sich bei der feierlichen Eröffnung des Esperanto-Weltkongresses um eine brave, völkerverständigende Veranstaltung handelte – hätten doch Kofi Annan, Helmut Kohl und andere Politiker sonst keine Grüße geschickt. Der Berliner SPD-Europaabgeordnete Christof Tannert wäre nicht mit einer Solidaritätserklärung aufgetreten.
Zum Rahmenthema „Globalisierung – eine Chance für den Frieden?“ treffen sich nun noch bis zum 7. August Esperanto-Sprecher aus rund 70 Ländern (von Albanien bis Vietnam) im ICC. Bei dem von den Berliner, Brandenburger und Polnischen Esperantisten gemeinsam organisierten Kongress werden über 150 Vorträge, Diskussionsrunden, Theateraufführungen, Konzerte und Filme geboten – natürlich ohne Dolmetscher. Da die verschiedenen Altersgruppen unter sich bleiben wollen und der älteste Kongressteilnehmer, ein 98-jähriger Berliner, kaum Gefallen an der „Esperanto“-CD der HipHop-Band „Freundeskreis“ finden dürfte, gibt es für Kinder eigene Veranstaltungen am Teufelssee.
Das bunte Treiben um die Informationsstände und den von Esperantisten der Deutschen Bahn eingerichteten „Ferovojaj Servoj“-Schalter im ICC beweist: Esperanto gedeiht – und könnte sogar eine Alternative zum Sprachenstreit der EU sein. „Es geht uns darum, mit einer neutralen, leicht erlernbaren Zweitsprache die internationale Verständigung zu verbessern“, erläutert Frank Stocker, der Vorsitzende des Deutschen Esperanto-Bundes. Plansprachen gibt es zwar viele, aber Esperanto ist bislang die einzig erfolgreiche: Über drei Millionen Menschen folgen dem grünen Stern. In Deutschland gibt es etwa 10.000 Esperantisten („Hoffende“), in Berlin sind rund 400 – 120 davon in der Berliner Esperanto-Liga organisiert. Ihr Vorsitzender Fritz Wollenberger ist stolz darauf, dass „Faust“ in Prenzlauer Berg in Esperanto übersetzt wurde – passend zum Goethejahr und ersten Esperanto-Weltkongress in Berlin.
Begründet wurde die Weltsprache vom Augenarzt Ludwik Zamenhof, der 1887 unter dem Pseudonym „Dr. Esperanto“ die Grammatik „Lingvo Internacia“ veröffentlichte. Er litt in seinem ostpolnischen Heimatort Bialystok unter dem Hass zwischen den Völkern: Russen gegen Polen gegen Litauer und alle gegen die Juden – Zamenhof wollte Frieden stiften.
Den Wortschatz bastelte Zamenhof aus Vokabeln verschiedener europäischer Idiome. Die Grammatik gestaltete er so einfach wie möglich: 16 Regeln ohne Ausnahme. Sie sind so leicht zu lernen, dass selbst Amerikaner damit klarkommen. Einen Rückschlag erlitt die Bewegung allerdings zu Beginn des Jahrhunderts durch die Abspaltung von „Reformern“, die eigene Sprachen entwickelten und mit erbitterten Kämpfen die ganze Plansprachenidee in den Ruf des Sektiererischen brachten. Schwung in die Sache brachte dagegen 1905 der erste Esperanto-Weltkongress in Frankreich. Tausende Teilnehmer entdeckten dort: Esperanto kann man tatsächlich sprechen. Mit Ausnahme der Weltkriegszeit wurde seither jedes Jahr ein Weltkongress veranstaltet: eine Woche lang nur Esperanto reden. Dazu kommen regionale Begegnungen von Esperanto-Rechtsanwälten, Esperanto-Ärzten, Esperanto-Buddhisten und vielen weiteren Interessengruppen. Zum nächsten Esperanto-Treffen ist es immer alles andere als weit. Man kann sogar auf Esperanto promovieren: Rund 500 Wissenschaftler gründeten 1983 in San Marino die „Akademio Internacia de la Sciencoj“ mit Esperanto als Arbeitssprache. Eines der Akademiemitglieder, der Nobelpreisträger Reinhard Selten, leitet in Berlin die „Kongress-Universität“: eine Vortragsreihe zu verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Beeindruckend ist auch die im Kongressbuchladen (dem ICC-Brückenfoyer) vertriebene Literatur: Von „Pipi Strumpolonga“ bis zum Koran ist so ziemlich alles auf Esperanto zu haben. Der chinesische Esperanto-Verlag verkauft nicht nur die Worte Maos – sondern auch einen „Atlas der Insektenmorphologie“. Bei der Lektüre wird das neue „Große Wörterbuch Esperanto – Deutsch“ mit seinen mehr als 80.000 Stichwörtern hilfreich sein.
Als größter lebender Dichter der Weltsprache gilt übrigens der 73jährige Schotte Bill Auld. Wer es nicht ganz so literarisch mag, schaut vielleicht in das ungarische Buch „Kulturo de la amo“ („Bildband für lebendigen Sex“). „Esperanto hilft gegen Haarausfall, Verdauungsschwierigkeiten und auch sonst alle Probleme“, versichert der Anglizist Humphrey Tonkin nicht ohne Selbstironie. Esperanto taugt nicht nur für ernsthafte Diskussionen über das Kongressthema Globalisierung, sondern auch, um sich ein Bier zu bestellen: „Unu bieron, mi petas!“ Infos: www. esperanto.de. Mittwoch ist Exkursionstag – der Kongress bleibt geschlossen. Dafür ist Donnerstag „Tag der offenen Tür“: deutschsprachige Führungen durch den Kongress um 14, 15 und 16 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen