In Fußballland

■ Christoph Biermann

Vielleicht lag es nur daran, dass ich einige Zeit nicht mehr in einem Fußballstadion gewesen war und in den Tagen der Sommerpause einfach vergessen hatte. Der Mann neben mir war eigentlich auch gar nicht so schlimm. Und ich bin schließlich durchaus der Meinung, dass man in einem Fußballstadion laut schreien und irrelevante Meinungsäußerungen machen darf. Aber er ging mir auf die Nerven. Obwohl sicherlich irgendwo in der Mitte seines sechsten Lebensjahrzehnts,

Wer Fernschüsse fordert, der ist auch für die Todesstrafe und kommt in die Hölle

forderte er Abspiele, wo ein Dribbling besser gewesen wäre, und umgedreht. Er beklatschte Spieler, die blöde Flugbälle in die Ferne pölten, und übersah das Geschick jener Kicker, die gewitzt dem Gegner die Wege verstellten. Mein Nebenmann hatte ein Problem: Er hatte keine Ahnung.

Menschen, die selten ihre Zeit in Fußballstadien verbringen, haben wahrscheinlich die romantische Vorstellung, dass es dort eine ungeheure Ballung plebejisch-populärer Kennerschaft gibt. Von Generation zu Generation weitergegebenes Wissen, eine schlichte Volksphilosophie mit verborgenen Tiefen. „Glaubt man den Experten, dann ist das Fußballspiel nicht die Fortsetzung des Lebens, sondern das Leben ist die Fortsetzung des Fußballspiels“, hat der große Ror Wolf geschrieben. Allerdings irren die Experten. Und schlimmer noch: Sie sind gar keine.

Die Vorstellung vom Fan, der alle Namen kennt, alles gesehen hat, alles weiß und das Spiel bis in die letzte Nervenendung versteht, ist leider falsch. Natürlich gibt es diese Fans, aber sie sind eine winzige Minderheit. Wer im Stadion seine Ohren aufspannt, wird bald erfahren, dass dort Tausende von Ahnungslosen dummes Zeug daherschwadronieren. Das fängt schon bei der Regelkunde an, wenn irgendwelche Schreihälse den Abseitspfiff fordern, beim Einwurf das Abseits aber eben aufgehoben ist. Sehr schön war auch die stete Forderung eines langjährigen Nebenmannes von mir, der bei rüderen Fouls stets die gelb-rote Karte verlangte. Er wollte einfach nicht verstehen, dass einer gelb-roten zunächst eine gelbe Karte vorausgehen muss. Besagter Nebenmann war allerdings auch der dümmste Mensch, der je im Stadion neben mir gestanden hat – und natürlich gehörte er zur Fernschussfraktion. „Hau doch mal drauf!“ ist ihr Erkennungsruf, und niemand von der Fernschussfraktion wird einsehen, dass Schüsse aus der Ferne nur ganz selten ins Ziel finden, mithin also eine ziemliche Verschwendung von Energie sind. Da es aber in jeder Saison ausreichend Gegenbeispiele gibt, jubelt die Fernschussfraktion über jeden aus dreißig Metern aufs Tor gehauenen Ball.

Nach einigen Jahren neben dem dümmsten Nebenmann der Welt bin ich fest davon überzeugt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Fernschussforderung und pubertärem Blitz-Sex gibt, wo die Jungs ja auch schnell zum Schuss kommen wollen, um dem ganzen erotischen Elend möglichst zügig eine Art von triumphalem Ende zu machen. Mein ehemaliger Nebenmann war in diesem Sinne ein echter Fernschießer. Aufgrund dunkler Verwicklungen, an deren genaue Hintergründe ich mich nicht mehr erinnern kann, wurde eine halbverwandte polnische Familie bei der seinen untergebracht und deren Tochter in seinem Zimmer. Was dabei herauskam, war, wie er bei langweiligeren Spielabschnitten brühwarm zu berichten wusste, nichts anderes als Fernschuss-Sex. Später kam er dann nur noch selten, weil er sich um die dabei entstandenen Kinder kümmern musste.

Selbstverständlich forderte auch mein Nebenmann von neulich lautstark: „Jetzt hau doch mal drauf.“ Wenn die Spieler auf ihn hörten und die Balljungen weite Wege machten, murmelte er: „War ja mal einen Versuch wert.“ Es ist einfach so: Wer Fernschüsse fordert, der ist bestimmt auch für die Todesstrafe und kommt am Ende in die Hölle. Das mag jetzt vielleicht etwas überspannt klingen, in drei Wochen werde ich mich wieder ins Unabänderliche gefügt haben und kurz vor der Winterpause auch selbst erwägen, ob die nicht einfach mal draufhauen sollten.