Ein Tiger wird öko

Lange galt Taiwan als reines Wirtschaftswunderland. Doch mit dem Wohlstand kam die Freizeit – und plötzlich entdecken die Inselbewohner ihr Herz für die Umwelt. Die junge Ökologiebewegung ist gegen AKWs und für Streichelzoos  ■ Von Dorothee Wenner

Nach meinem Gefühl ist sowieso alles zu spät. Als ich ein Kind war, gab es noch wunderbar wilde Wälder, und Kraniche waren so verbreitet wie Spatzen. Aber über Jahrzehnte ist es niemandem in den Sinn gekommen, sich um die Natur zu kümmern“, meint die 32-jährige Chen Yu-lan aus Taipeh. „Die meisten Chinesen, die sich hier niedergelassen haben, verhielten sich auf der Insel wie in einem Hotel. Sie haben Taiwan einfach nicht als ihr Zuhause angesehen.“

Mehr als fünfzig Jahre nachdem die Republik China ihren Regierungssitz nach Taiwan verlegte, hat sich das grundlegend geändert. Die alten Kuomintang-Kämpfer, die immer noch glauben, von Taiwan aus das Festland zurückerobern zu können, verlieren stetig an Einfluss, und wenn der Name des Übervaters Chiang Kai-shek fällt, rollen die Jüngeren nur noch genervt die Augen. Im Wirtschaftswunderland Taiwan ist eine Konsumgesellschaft herangewachsen, die den politischen Status quo für so selbstverständlich hält, wie man sich hierzulande vor 1989 an die Existenz zweier deutscher Staaten gewöhnt hatte.

Man muss schon genau hinsehen, um unter dem mode-und markenbewussten Lifestyle der Großstädter zu entdecken, dass das rohstoffarme Taiwan noch vor kurzem ein „behelfsmäßiger“ Agrarstaat war, ein temporäres Exil. Es waren die Bauern, die mit enormer Anstrengung in den fünfziger Jahren dem fruchtbaren Boden die Basis für den heutigen Reichtum entlockten. Reis, Ananas, Bananen, Spargel, Zucker wurden als Cash-Crops im Übermaß produziert und machten damals über 90 Prozent des Exports aus. Heute sind es nur noch 4,6 Prozent. In den siebziger und achtziger Jahren verwandelte sich Taiwan in einen der „südostasiatischen Tiger“ und verzeichnete vor allem in der Computer- und Elektroindustrie sowie in der petrochemischen Industrie ein enormes Wirtschaftswachstum.

Zur gleichen Zeit bekam der ungebrochene Fortschrittswille Risse: Die Luft in den Ballungszentren war unerträglich geworden, das Wasser hatte miserable Qualität, und der Blick wanderte von den wirtschaftlichen Erfolgsstatistiken besorgt auf die gnadenlos überdüngten und pestizidverseuchten Agrarflächen, die wachsenden Müllberge und die steil nach oben zeigende Kurve des Energieverbrauchs. Seit neuestem gibt es in Taiwan zahlreiche Ministerien und Forschungsstationen, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Ein neuer Typ des ökologisch bewussten Politikers hat sich herausgebildet, der über die Nachteile des deutschen „Grüne-Punkt-Systems“ ebenso gut Bescheid weiß wie über die neuesten Entwicklungen im japanischen Agrartourismus.

Ein typischer Vertreter ist der dem Innenministerium unterstellte Lin I Yeh, stellvertretender Direktor der Abteilung für Nationalparks. Wie viele seiner Kollegen trägt er im Dienst Krawatten mit „Wild Life“-Motiven, insgesamt 120 verschiedene hat er daheim im Schrank. Ohne Umschweife erklärt Lin I Yeh, dass die ökologische Situation Taiwans noch vor fünf Jahren katastrophal gewesen sei. Aber derzeit würden drastische Gegenmaßnahmen durchgeführt: ambitionierte Wiederaufforstungsprogramme, Aufklärungskampagnen, kostspielige Wiederansiedlungsmaßnahmen für bedrohte Tierarten, Förderung ökologischer Landwirtschaft. Inzwischen sind über sechzig Prozent der Gesamtfläche Taiwans landschaftsgeschützt – die Insel ist zum Land mit der dichtesten Waldfläche weltweit geworden.

Über politische Widerstände oder mangelndes Geld klagt Lin I Yeh nicht – im Gegenteil. Nach Jahren gewissenloser Umweltzerstörung versuche die Regierung nun mit echtem Enthusiasmus wiedergutzumachen, was man in den Jahren des Wachstumswahns so sträflich vernachlässigt habe. Probleme gebe es aber vor allem noch im Bewusstsein seiner Landsleute, die sich zum Beispiel damit schwer täten, gewisse Vögel ersatzlos von der Speisekarte zu streichen. Oder auf die vielen Pülverchen zu verzichten, die aus den Körperteilen seltener Tiere hergestellt werden und als wirksame Mittel gegen Krankheiten, Impotenz oder sonstige Beschwerden eingenommen werden. „Dagegen“, so Lin I Yeh, „kann man nur mit harten Strafen vorgehen.“

Weitaus nachhaltiger als Bußgelder hat jedoch die ökonomische Situation das Verhältnis der so genannten „Neuen Taiwaner“ zu ihrer Umwelt verändert. Mit dem Wohlstand kam die Freizeit. Seit Januar 1998 haben die meisten Taiwaner jeden dritten und vierten Samstag frei, und absehbar ist die Einführung der regulären Fünftagewoche. Früher hat die arbeitsfreie Zeit gerade zum Einkaufen gereicht – jetzt lohnt es sich, am Wochenende Kurztrips zu machen. Ein regelrechtes Sightseeing-Fieber im eigenen Land scheint ausgebrochen zu sein. Als gelte es, einen jahrzehntelangen Nachholbedarf zu befriedigen, erkunden taiwanische Familien an den freien Wochenenden die zahlreichen scenic spots der Insel, besichtigen mit ihren Stadtkindern Korallenriffe oder Streichelzoos und genießen „gesundes Bergessen“ in einfachen Landgasthäusern. Mountain-Biking, Wandern, Fischen und Vogelbeobachtung entwickeln sich zu neuen Breitensportarten.

Frau Song Pan Chei zum Beispiel, eine 48-jährige Programmiererin, hat sich als Autodidaktin ein beeindruckendes ornithologisches Wissen angeeignet. Sie und ihr Kollege Chen Cheng Chang sind Mitglieder der „Chinese Wild Bird Federation“ und legen rührenden Eifer an den Tag, wenn sie mit Ferngläsern, Bestimmungsbüchern, Lupen und Notizbüchlein über die frisch angelegten Naturlehrpfade laufen und jedes Vögelchen, jede Zikade mit stiller Freude registrieren.

Fast jedes freie Wochenende versuchen die beiden auf Exkursionen Schülern, Familien, aber auch Firmenchefs und Anwälten beizubringen, wie entspannend und lehrreich der Aufenthalt in der Natur ist. Die meisten Leute seien begeistert und viele würden sich gleich beim ersten Mal entscheiden, die Vogelbeobachtung zu ihrem Hobby zu machen. Und das, erklären die beiden Pioniere, sei doch die wirkungsvollste Art des Naturschutzes. Gar nicht unähnlich der hiesigen Ökobewegung, scheinen die Bedürfnisse der modernen Freizeitgesellschaft das Fundament grüner Politik zu sein.

Die neue Ökobewegung beeinflusst auch das Konsumverhalten in Taiwan. Naturkosmetik ohne Konservierungsstoffe, Wasserfilter und blutreinigende Tees finden in den Kaufhäusern reißenden Absatz. In einigen Supermärkten wird inzwischen auch Ökogemüse angeboten – noch zum drei-bis fünffachen Preis der herkömmlich angebauten Produkte. Chong Nein-Hsiung gehört zu den Pionieren der Ökobauern, seit 1988 hat er seinen 2,5 Hektar großen Betrieb am nördlichen Stadtrand von Taipeh umgestellt. Im Vergleich zu deutschen Gärtnereien ist es ein winziges Unternehmen, das hierzulande kaum eine Familie ernähren könnte. Herr Chong hingegen lächelt glücklich, wenn er nach seinen Umsätzen gefragt wird. Zwischen seinem kräftigen Chinakohl wirkt er weniger wie ein Geschäftsmann denn wie eine Art Guru.

Vor elf Jahren hat er sich das Wissen seines Großvaters zu Eigen gemacht und sich – von Kollegen belächelt – im Alleingang ökologische Anbaumethoden beigebracht. Heute besuchen Politiker, Wirtschaftsexperten, Agrarwissenschaftler und jede Menge Journalisten die Gärtnerei, um sich über die Vorteile ökologischer Landwirtschaft belehren zu lassen. Die Ökobauern Taiwans sind in Vereinen organisiert und gerade dabei, ein landesweites Vertriebsnetz aufzubauen. Die Zukunftsaussichten, erklärt Herr Chong, seien hervorragend – schließlich gehe in Taiwan nichts über gutes Essen, und dafür sei man bereit viel Geld auszugeben.

In Sachen Ökologie wäre Taiwan auf dem besten Weg, sich zum Musterschüler zu mausern, gäbe es da nicht die Atomkraftwerke. Drei sind bereits am Netz – der Bau des vierten in der Nähe der Hauptstadt sorgt derzeit für Turbulenzen. Eine starke Antinuklearbewegung, die auch aus den Reihen der 1986 gegründeten Democratic Progressive Party (DPP) Unterstützung findet, organisiert regelmäßig Demonstrationen und hat bereits drei Referenden durchgeführt, die zeigten, dass die Mehrheit der Taiwaner gegen ein weiteres AKW ist.

Aber die regierende Kuomintang-Partei lässt die Bevölkerung wissen, es handele sich hierbei um eine wirtschaftlich notwendige Maßnahme und nicht etwa um eine politische Entscheidung. So ganz weich ist die Strategie zur Verwandlung des umweltfressenden Tigers in einen ressourcenschonenden Bettvorleger – vor der Küste Rotchinas – dann doch nicht.

Dorothee Wenner, 38, schreibt seit 1989 als freie Autorin für die taz