piwik no script img

„Als wäre die Geburtsstunde der Welt“

■ Virginia Woolf berichtet von der Sonnenfinsternis von 1927 über Richmond, England

Am Dienstagabend gegen 10 Uhr verließen mehrere sehr lange Züge, vorschriftsmäßig gefüllt (unserer mit Beamten) King's Cross. In unserem Waggon waren Vita & Harold [Nicolson], Quentin [Bell], L. [Leonard Woolf] & ich. So rasten wir durch die Midlands. Dann um 3 holten wir unsere Sandwiches hervor, & als ich aus dem WC zurückkam, wurde an Harold gerade die Sahne abgeputzt. Dann zerbrach er den porzellanfarbenen Butterbrotbehälter. An diesem Punkt lachte L. hemmungslos. Es fing an, grau zu werden – immer noch ein flockiger gefleckter Himmel.

Wir kamen gegen 3.30 in Richmond an: es war kalt. Wir fuhren in einem Omnibus weiter. Alle Felder waren hellbraun von Junigras & Kräutern mit roten Quasten, noch nichts farbig, alles bleich. Wir waren ein Konvoi von 3 riesigen Fahrzeugen, alle sehr niedrig & stark; überwanden ungeheuer steile Hügel. Auf der Kuppe von Bardon Fell kampierten die Leute neben ihren Autos. Wir stiegen aus & waren ganz hoch, auf einem Moor, sumpfig, mit Schießständen für die Moorhuhnjagd. Hier & da waren grasbewachsene Wege, & die Leute hatten schon ihre Stellungen eingenommen.

Über Richmond, wo die Sonne aufging, lag eine weiche graue Wolke. Wir konnten an einem goldenen Fleck erkennen, wo die Sonne war. Aber es war noch früh. Vier große rote Setter kamen über das Moor gesprungen. Hinter uns weideten Schafe. Es gab dünne Stellen in der Wolke, & einige richtige Löcher. Die Frage war, würde die Sonne sich durch eine Wolke zeigen oder durch eine dieser leeren Stellen, wenn die Zeit käme. Die Aufregung wuchs langsam. Wir sahen Strahlen durch den unteren Teil der Wolke dringen. Dann, einen Augenblick lang, sahen wir die Sonne dahinfegen – sie schien mit großer Geschwindigkeit dahinzusegeln & klar in einem Loch; wir hatten unsere gerußten Brillen zur Hand; wir sahen sie zum Halbmond werden, rotbrennend; im nächsten Augenblick war sie stracks wieder in die Wolke gesegelt; nur die roten Bänder kamen hervor.

Die Augenblicke gingen vorbei. Wir dachten, wir würden geprellt werden; wir beobachteten die Schafe; sie zeigten keine Furcht; die Setter rasten in die Runde; alle standen in langen Reihen, ziemlich würdevoll, Ausschau haltend. Mir kam die Vorstellung, wir wären wie sehr alte Völker, in der Geburtsstunde der Welt – Druiden bei Stonehenge. Hinter unserem Rücken gab es große blaue Flächen in der Wolke. Noch waren sie blau. doch jetzt verschwand die Farbe. Die Wolken wurden bleich; ein rötliches Schwarz. Unten im Tal waren ungewöhnliche Schwaden von Rot & Schwarz; alles dort unten war Wolke, & sehr schön, ganz zart getönt. Man konnte nichts durch die Wolke sehen.

Dann schauten wir wieder zum Blau hin: & rasch, sehr sehr schnell, verblaßten alle Farben; es wurde dunkler & dunkler, wie wenn ein heftiger Sturm einsetzt; das Licht sank & sank: wir sagten uns, das ist der Schatten; & wir dachten, jetzt ist es vorbei – das ist der Schatten, als das Licht plötzlich ausging. Wir waren gefallen. Es war verlöscht. Da war keine Farbe. Die Erde war tot. Das war der überraschende Augenblick; & der nächste, als die Wolke, als würde ein Ball zurückprallen, wieder Farbe annahm, bloß eine sprühende ätherische Farbe & so das Licht wiederkam.

Ich hatte sehr stark das Gefühl, als das Licht ausging, einer unendlichen Verbeugung; etwas, das niederkniete, & tief & plötzlich aufgehoben würde, als die Farben kamen. Sie kamen überraschend leicht & schnell & schön im Tal & über den Hügeln zurück – zunächst wundersam glitzernd & von ätherischer Leichtigkeit, später beinahe normal, aber mit einem starken Gefühl der Erleichterung. Es war wie eine Genesung. Es war uns viel schlechter gegangen, als wir erwartet hatten. Wir hatten die Welt tot gesehen. Das lag in der Macht der Natur. Unsere Größe hatte sich ebenfalls gezeigt. Wir froren bitterlich. Ich glaube, die Kälte hatte zugenommen als das Licht ausging. Man fühlte sich aschfahl. Dann – war es vorbei bis 1999.

Was blieb, war ein Gefühl für den Komfort, an den wir uns gewöhnen, von viel Licht & Farbe. Das schien eine ganze Weile lang etwas überaus Willkommenes. Aber als es sich über das ganze Land verbreitet hatte, vermißte man etwas dieses Gefühl von Erleichterung & Aufschub, das man gehabt hatte, als es nach der Dunkelheit wiederkehrte. Wie kann ich die Dunkelheit ausdrücken? Es war ein plötzliches Hineinstürzen, als man es nicht erwartete: dem Himmel ausgeliefert sein: unsere eigene Würde: die Druiden; Stonehenge; & die rasenden roten Hunde; all das war einem im Sinn. Auch, daß man aus seinem Londoner Wohnzimmer herausgenommen worden war & abgesetzt auf dem wildesten Hochmoor Englands, war beeindruckend.

Tagebücher 1925 – 1930, Bd. 3. S. Fischer Verlag, 1999, 540 S., 78 DM, leicht gekürzt.

Die Redaktion dankt Stefan Schomann für seine unermüdliche Suche nach finsteren Texten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen