Die Not der Kurzschnabelgans

Island 2000 (1): Der Killerwal Keiko erhält Morddrohungen, das Penismuseum sucht neue Exponate, die neue grüne Partei kämpft gegen den Bau von Wasserkraftwerken, und das ganze Land diskutiert über die Nato-Mitgliedschaft. Auftakt einer Sommerserie  ■   Von Wolfgang Müller

Keiko planscht noch immer fröhlich und unbekümmert in seinem Spezialbassin im Hafen der Westmännerinseln herum. Der isländische Killerwal, der nach 20 Jahren Showbusiness in den USA – dort bekannt unter dem Künstlernamen Willy – von der „Free Willy Keiko Foundation“ in einem äußerst aufwendigen Transportverfahren zur Auswilderung in seine Heimat zurückverfrachtet wurde, scheint nicht besonders scharf auf die Wildnis zu sein. Immer noch rollt er sich gern auf den Rücken, um von seinen Pflegern gekrault zu werden. Der berühmteste Bewohner des Eilands, auf dem im übrigen noch 5.000 Menschen leben, dürfte auch der einzige sein, der je Morddrohungen erhielt. „Wir werden ihn gleich nach der Ankunft schlachten und zu Buletten für die Schulspeisung verarbeiten!“, drohte ein anonymes Terrorkommando mit Verweis auf die hohen Transport- und Organisationskosten.

„Nachdem er sich akklimatisiert hat, sollte der Wal eigentlich in die Freiheit entlassen werden. Es ist äußerst fraglich, ob er diese überhaupt noch genießen kann“, so die Biologin Kolbein Óddgeirsdóttir. Die in sein Bassin gekippten lebenden Fische lehnt Keiko jedenfalls bislang strikt ab, sein Jagdinstinkt scheint völlig erloschen. Der Killerwal will Vorgeschlachtetes. Im Falle seiner Freilassung befürchten die Experten nun, dass der Liebling der Kinder Ausflugsfähren angreift, um mit Fertigmahlzeiten versorgt zu werden. Dass in einem solchem Fall Kristin Gunnarsdóttirs illustriertes Kinderbuch „Keiko – endlich zu Hause“ von den Sondertischen in den Kaufhäusern verschwinden wird, gilt als wahrscheinlich.

Der dekadente Großsäuger inspirierte auch den großen Transvestiten-Contest, der erstmalig im letzten Jahr stattfand. Aus neun Regionen des Landes strömten die Gewinner der örtlichen Transvestitenshows, darunter stämmige Pferdetrainer, Fischerjungs und Jungbauern in Reykjavik zusammen, um in der Endausscheidung den Titel der „Drag Queen of Iceland“ zu erringen. Zumeist von ihren Freundinnen überredet, eingekleidet und geschminkt lernten die Amateure ein paar Bühnenschritte und Mundbewegungen für das Playback im Finale. Organisiert hatte die erfolgreiche Unternehmung der 19-jährige Eyvindur Eggertsson, Mitglied der Travestiegruppe „Icequeens“. Schon auf dem Lande waren alle Veranstaltungen überfüllt, und in der Hauptstadt drängten sich an die tausend Zuschauer im Saal des Íngolfscafés. Schließlich wurde Keiko zur Icequeen des Jahres gewählt. „Nein, nein, nicht der Wal,“ beeilt sich Eyvindur zu erklären, „Keiko ist der Künstlername des Gymnasiasten Georg Erlingsson aus Reykjavik. Er hatte eine getürmte Lockenperücke auf dem Kopf und trug ein enges bordeauxrotes Abendkleid. Es schillerte wie die Bauchseite eines geräucherten Herings!“

Ebenfalls einen hervorragenden, wenn auch nur zweiten Platz belegte die Sängerin Selma Björnsdóttir beim diesjährigen Grand Prix Eurovision in Jerusalem. Die ganze Insel drückte ihr die Daumen – damit sie den zweiten Platz bekäme. „Sicher haben ihr alle den Sieg gegönnt, aber das wäre eine totale Katastrophe gewesen. Es gibt überhaupt keine Konzerthalle in Island, die groß genug für diese Veranstaltung ist“, sagt die Künstlerin Ásta Ólafsdóttir, kommissarische Leiterin des privaten Goethe-Instituts. „Und außerdem hätten die Eurovision-Fans in Zelten schlafen müssen. Ob denen das gefallen hätte?“ Wohl kaum. „Das ganze Geld ist sowieso schon verplant für das Ereignis ,European Cities of Culture‘.“ Reykjavik wird nämlich eine der neun europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2000. Was da allerdings geboten werden soll, steht noch nicht fest. In Island wird gern in letzter Minute organisiert. Einzig sicher ist, dass neben „Culture and Nature“ die Sängerin Björk eine wichtige Rolle spielen soll.

Hoffentlich eine Rolle spielen wird auch das Säugetierpenismuseum des sympathischen Spanischlehrers Sigurdur Hjartarsson auf der Hauptstraße, dem Laugavegur, das in sein drittes Jahr geht. Es ist weltweit das einzige seiner Art und zeigt präparierte Penisse von Walen, Robben, Mäusen und anderen Säugern. Auch ein Rentner aus Akureyri, der 85-jährige Ornithologe Páll Arason, vermachte der Sammlung testamentarisch sein Gemächte (die taz berichtete). Es ist wohl kaum ein Zufall, dass die Frau, die ich schon im Flugzeug von Düsseldorf nach Reykjavik erblickte, dem „redursafn“ einen Besuch abstattet: Laura Méritt aus Berlin, Gastgeberin von Sexclusivitäten, Produzentin von Sexspielzeug für Frauen und anderes mehr. „Bist du der Elfenmann?“, fragt sie mich. „Und du vertreibst Sextoys für Frauen?“, vergewissere ich mich. „Reykjavik soll ja inzwischen die Metropole der nordeuropäischen Lesben- und Schwulenszene sein“, lenkt Laura Méritt das Gespräch in eine andere Richtung.

Tatsächlich wehen schräg gegenüber dem Penismuseum vier Regenbogenfahnen und künden von der Existenz des neuen Gay-Centers. Eingeweiht wurde es Mitte Juli zum ersten großen schwul-lesbischen Straßenfest auf dem Íngolfstorg im Zentrum Reykjaviks. Zuvor gab es zwei Wochen ununterbrochen Nieselregen. Außerdem sollte ausgerechnet das im März verschobene erste Rolling-Stones-Konzert auf Island an diesem Wochenende stattfinden. „Der Regen stoppte plötzlich einen Tag lang, die Sonne schien, und die Stones sagten wiederum ab“, strahlt Páll Óskar Hjálmtýsson, einer der Organisatoren und ehemaliger Grand-Prix-Teilnehmer. „Ein Riesenglück für das Gay-Weekend!“

Im neuen Samtökin-Zentrum blättert ein Besucher aus Krakau in seinem polnischen Gay-Guide: „Hier steht noch Lindargata. Da war ich gerade und habe einen Mann von gegenüber gefragt, ob es das Schwulenzentrum noch gebe.“ Dieser habe doch tatsächlich seine Frau geholt, die telefonierte dann solange herum, bis sie die neue Adresse herausbekam. „Ich konnte das gar nicht glauben.“ Ja, Island ist sehr liberal. Wenn man bedenkt, dass ausgerechnet der Justizminister von der Konservativen Partei vor drei Jahren ein Gleichstellungsgesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Parlament eingebracht hat – es gab lediglich die Gegenstimme eines fundamentalistischen Christen – dann wundert es kaum, dass mittlerweile das dritte schwul-lesbische Gästehaus und eine zweite Gay-Disko, das „Spotlight“ in Reykjavik eröffnet hat.

Bei soviel Offenheit haben es auch die linken Parteien schwer, sich gegen die Konservativen abzugrenzen. Die Anliegen der Frauenbewegung, die durch die einzige in einem europäischen Parlament vertretene feministische Partei, der Kvennalista, seit Mitte der 70er Jahre artikuliert wurden, haben durch ihre Vereinigung mit den Linkssozialisten und den Sozialdemokraten zu einer Partei möglicherweise ein anderes Gewicht erhalten. Die Kvennalista, die sich bis dato nicht dem Links-Rechts-Schema zuordnete, stand für Frauen- und Bürgerrechte und stellt mit Ingibjörg Sólrun Gisladóttir die Bürgermeisterin von Reykjavik. Doch ausgerechnet durch den Zusammenschluss der drei Parteien entstand etwas, was es bislang auf Island nicht gab und auch nie für nötig gehalten wurde: Eine linke grüne Partei. „Die Grünen gab es hier bisher nicht, weil sowieso jeder Isländer davon überzeugt ist, ein Freund der Natur zu sein. Ich habe zum Beispiel noch nie jemanden kennengelernt, der für den Bau der geplanten Wasserkraftwerke im Hochland gewesen wäre“, meint Ásta Ólafsdóttir, die gerade eine Kunstausstellung in Selfoss gegen das Bauvorhaben initiiert hat. Mit einem Überraschungserfolg auf Anhieb bei den Landeswahlen am 8. Mai 1999 ins Parlament gekommen – 9,1 Prozent der Wähler votierten für sie –, vertreten die isländischen Grünen verstärkt ökologische Anliegen. Insbesondere den Bau von fünf Wasserkraftwerken in den unberührtesten Regionen des Landes gilt es zu verhindern, meint Kolbrún Halldórsdóttir. Sie ist eine der sechs Abgeordneten der „Vinstri Hreyfingin – Graent Frambod“ des insgesamt 63 Abgeordnete umfassenden Parlaments, dem Althing. Die Theaterregisseurin hätte sich nie träumen lassen, in die Politik zu gehen. Von Oktober bis zu den Wahlen im Mai 1999 organisierte sie Dichterlesungen vor dem Parlament, um gegen die Zerstörung des Hochlands zu protestieren.

Auf die Frage, was sie von den deutschen Grünen halte, reagiert sie eher reserviert: „Herr Fischer hat sich doch sehr verändert. Es ist sicher schwer, sich als deutscher Regierungspolitiker die Hände nicht schmutzig zu machen. Ich hoffe jedenfalls, dass ich nicht von der Politik korrumpiert werde.“ Kolbrún erhebt sich vom Schreibtisch und weist auf ein Foto im Regal: „Hier, das ist unser Premierminister David Oddson vor den Flaggen der Nato-Länder, darunter auch die isländische.“ Sie schüttelt den Kopf und sagt: „Es ist einfach unglaublich, dass unser Premier vor die Medien tritt und die Isländer von der Notwendigkeit des Kosovo-Kriegs überzeugen möchte!“ In der Tat ist dieser Krieg der erste, an dem Island seit seiner Staatsgründung vor über tausend Jahren beteiligt ist. Island hat zwar keine Armee, doch einen amerikanischen Stützpunkt in Keflavik. „Der Kosovo-Krieg hat die Diskussion um unsere Nato-Mitgliedschaft wieder entfacht.“ Doch vorerst steht für Kolbrún die Verhinderung der Wasserkraftwerke auf dem Plan. Die Regierung möchte Energie exportieren und Aluminium verhütten. Riesige Anlagen sollen um den Hofs- und Vatnajökullgletscher entstehen. Der Welt größter Mauserplatz von Kurzschnabelgänsen ist dadurch gefährdet. 13.000 dieser Gänse treffen sich jährlich in flugunfähigem Zustand zwischen Juni und Juli in der Oase Thórsárver unterhalb des Gletscherbergs Hofsjökull. „Dort ist die Landschaft ziemlich flach. Mindestens 8 Prozent des Hochlands würden so unter Wasser gesetzt, Landschaft, die unwiderbringlich verloren ginge!“, so Kolbrún, die die deutschen Naturfreunde bittet: „Schreiben Sie freundliche Protestbriefe an den Minister of Industry, Mr. Finnur Ingólfsson, Althingi, Island – 101 Reykjavik.“

In der Broschüre der Icelandic Energy Marketing hört sich alles natürlich viel schöner an: Saubere Energiegewinnung durch Wasserkraft und die niedrigsten Energiepreise Europas für die ausländischen Abnehmer. Alles dekoriert mit bezaubernd schönen Landschaftsaufnahmen. Kolbrún zeigt auf eine Statistik in der Broschüre: „Hier, im Vergleich mit anderen europäischen Ländern bietet das Unternehmen in Island sogar Löhne am untersten Level: Das ist eine Unverschämtheit!“ Bei den hohen isländischen Lebenshaltungskosten werden sich die Arbeiter in den Kraftwerken möglicherweise einen Nebenjob als Touristen-Guide oder Hotdog-Verkäufer suchen müssen.