„Wir haben einen Kulturkampf“

■ Der Soziologe Ronald Hitzler sieht die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft kommen. Viele müssen arbeiten, um anderen die Freizeit zu ermöglichen

taz: Glaubt man den Kirchen, dann bedrohen geöffnete Geschäfte und Warenhäuser den heiligen Sonntag. Was ist denn – gesellschaftlich betrachtet – am Sonntag so heilig?

Ronald Hitzler: Der Sonntag steht für die Idee, dass bestimmte Zeitbereiche für die Familie reserviert sein müssen – ohne Einschränkung. Die Kirchen wollen den Sonntag als religiöses Kulturgut bewahren und damit auch ihren gesellschaftlichen Einfluss. Und die Gewerkschaften versuchen entgegen der allgemeinen Entwicklung an einer fiktiven Normalität von Arbeitszeiten festzuhalten.

Wäre es nicht tatsächlich Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass es gemeinsame freie Zeit gibt, und einen freien Tag in der Woche als soziale Errungenschaft zu bewahren?

Kulturtraditionalisten betrachten den Sonntag als kulturelle Möglichkeit, sich auszuruhen. Das basiert auf dem Prinzip, dass außer den Priestern niemand arbeitet. Diese Idee des gemeinsamen freien Tages für alle haben wir in der Kulturgeschichte jedoch völlig aufgelöst. Wochenende bedeutet für uns Freizeit. Wir wollen nicht zu Hause sitzen und gar nichts tun. Wir wollen Unterhaltung durch die Medien, Frühstücksbrötchen, eine Stadt, in der vielfältige Angebote zur Verfügung stehen. Ständig müssen Menschen arbeiten, damit andere Freizeit haben können.

Und zu diesem Freizeitangebot gehören künftig auch geöffnete Geschäfte an den bisher für Verkäufer arbeitsfreien Sonntagen?

Die Entwicklung wird sich nicht aufhalten lassen. Es ist eine Frage der kulturellen Gewöhnung. Bei uns würde jeder den Kopf schütteln, wenn ein Journalist bei einer Tageszeitung sonntags nicht arbeiten wollte. Denn die Leute wollen montags eine Zeitung lesen. Aber über einen Verkäufer, der sonntags nicht arbeiten will, schüttelt niemand den Kopf. Für uns ist ganz klar, dass bestimmte Berufe zu ganz merkwürdigen Zeiten arbeiten müssen. Bei anderen hingegen sind wir es nicht oder noch nicht gewohnt.

Diese Entwicklung bedeutet aber auch, dass wir immer weniger über unsere Zeit frei verfügen können.

Es gibt Zeitprivilegierte, die frei bestimmen können, wann sie arbeiten. Sie entscheiden sich zum Beispiel, heute nur zwei Stunden zu arbeiten, dafür aber in den nächsten beiden Nächten. Sie müssen nur am Ende ein Produkt abliefern. Es gibt aber auch Berufe, in denen man kein Produkt, sondern Arbeitszeit abliefert.

VerkäuferInnen werden sich also damit abfinden müssen, künftig auch an Sonntagen zu arbeiten?

Die Signalwirkung der geöffneten Kaufhäuser ist sehr wichtig. Denn wir haben derzeit einen Kulturkampf um die Frage, ob die Idee, dass Menschen zwischen Montag früh und Freitagnachmittag arbeiten, nicht längst zu einer Fiktion geworden ist; zu einer Fiktion, die wir nicht ins 21. Jahrhundert schleppen können. Im nächsten Jahrhundert werden wir alle alten kulturellen Zeitblöcke auflösen – mühsam und mit heftigen Auseinandersetzungen. Statt „Papa gehört samstags uns“ heißt es dann wohl eher: „Papa gehört irgendwann uns“.

Interview: Jutta Wagemann