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Dagestan steht vor einem Bürgerkrieg

Heftige Gefechte zwischen russischen Truppen und islamistischen Rebellen in der Kaukasusrepublik. Bewohner fliehen aus eingekesselten Dörfern. Russland verstärkt sein Militäraufgebot  ■   Aus Moskau Barbara Kerneck

Was politische Beobachter schon längst erwarteten, trat gestern ein: in der Kaukasusrepublik Dagestan ist der zweite offene Bürgerkrieg in der Russischen Föderation ausgebrochen, nachdem der Konflikt im benachbarten Tschetschenien vor genau drei Jahren durch einen offiziellen Friedensschluss auf kleine Flamme geschraubt werden konnte.

Während in Moskau der nationale Sicherheitsrat tagte, trafen Ministerpräsident Sergej Stepaschin und Genrealstabschef Anatoli Kwasnin überstürzt in der Berg-und Zwergrepublik Dagestan ein, wo an die zweitausend in Tschetschenien ausgebildete Diversanten schon seit über 48 Stunden vier große Dörfer der Hochgebirgsregion okkupiert hielten. Stepaschin erklärte vor seinem Abflug: „Die Erinnerung an die Jahre 1994/95 (an den Ausbruch des Tschetschenienkrieges – Anm. d. Red.), schreckt heute so manchen davon ab, hier die Verantwortung zu übernehmen. Ich fürchte mich davor nicht.“

In einem großen Flüchtlingsstrom bewegen sich Hunderte von Frauen und Kindern auf die Republikhauptstadt Machatschkala zu. Manche von ihnen berichten, die Terroristen hätten sie geschlagen und misshandelt und ihre Männer als Geiseln zurückbehalten. Auch hätten die Eindringlinge nicht mit den Ältesten der betroffenen Dörfer verhandelt. Erstmals haben die Möchtegern-Partisanen aus Tschetschenien damit offenbar die Regel verletzt, sich in der Bevölkerung wie Fische im Wasser zu bewegen.

Die Invasoren werden in den russischen Medien als „Wahhabiten“ bezeichnet. Sie sind meist Bürger der islamischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion: Tschetschenien, Usbekistan, Baschkirien, Turkmenien, oder auch Araber. Ihr Ziel besteht darin, den größten Teil des Kaukasus als islamische Zone aus dem Verband der Russischen Fööderation herauszusäbeln.

Tatsächlich erlebt der islamische Fundamentalismus auch im Nordkaukasus eine Renaissance. Mit den ursprünglichen Wahhabiten hat dies meist wenig zu tun. Diese puritanische Sekte entstand im 18. Jahrhundert im jetzigen Saudi-Arabien. Von dort aus werden heute tschetschenische Trainingslager finanziert. Der Chef des größten Ausbildungszentrums, Hattab, ist allerdings Jordanier.

Unter seinem Einfluss erklärten sich vor einem Jahr die zwei Dörfer Karamachi und Tschabanmachi in der dagestanischen Grenzregion zum „unabhängigen islamischen Territorium“. Ihre Bewohner – vorwiegend Obst- und Gemüsebauern – erklärten ihren Widerstand aber nicht religiös, sondern mit der Korruption der Behörden: Ihr Wohlstand habe der Mafia in Machatschkala keine Ruhe gelassen. Immer wieder schicke man ihnen von dort Aufgebote einheimischer Miliz, die sie dann terrorisierten.

Stepaschin, damals Innenminister, schloss ein Duldungsabkommen mit diesen Dörfern, in dem er ihnen versprach, sie nicht anzurühren, falls sie ihre Waffen abgäben. An den Schalthebeln Dagestans sitzt nach wie vor eine Clique von eng mit der Mafia verschwägerten Altkommunisten. Ihr politischer Terror, der das Land immer weiter destabilisierte, nützte vielen Schmuggler- und Banditengrüppchen. Das rüde Betragen der Invasoren hat plötzlich die jungen Männer der Region dazu bewegt, sich zu Selbstverteidigungs-Einheiten gegen die Okkupanten zusammenzuschließen – ein unerwartetes Geschenk für die örtlichen Machthaber.

Am Sonntag operierten am Schauplatz die 136. Buinazker Motorradbrigade und die 202. Brigade der Streitkräfte des russischen Innenministeriums, Verstärkung wurde von den regulären Armeeeinheiten des transkaukasischen Wehrkreises erwartet. Mit diesem Aufgebot, unter Deckung durch die Luftstreitkräfte, hofft die russische Regierung die 80 Kilometer lange Grenze zwischen Dagestan und Tschetschenien abzuriegeln.

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