Hier, dein Abendbrot

Doppelkorn und Schokolade machen schließlich auch satt. Andreas Dresens Episodenfilm „Nachtgestalten“ beweist: Glück ist machbar auch für die Leute, die im neuen Berlin keinen Platz mehr finden  ■ Von Gerrit Bartels

Es ist toll, wie viele Bilder von und über Berlin so produziert werden. Dieser Tage kann man in der Stadt leicht das Gefühl bekommen, es gebe nichts Wichtigeres als die Montage von Schalensitzen im Olympiastadion, den Sommerschlussverkauf und den verkaufsoffenen Sonntag oder die Frage, ob Skater nun auch auf der Straße fahren dürfen oder nicht. Das ist das Berlin, das man nur allzu gut aus den achtziger Jahren kennt, ein bisschen kleinkariert, ein bisschen provinziell, ein bisschen neben der Spur im Sommer.

Dann aber wieder sind es die Berliner Republik und die neue Mitte, um die sich alles dreht, wahlweise die besonderen „Herausforderungen, denen eine moderne Gesellschaft am Beginn des neuen Jahrtausends gegenübersteht“ (wie es in einem überall ausliegenden Programmheft zum Ende August stattfindenden Medienfestival BerlinBeta heißt).

Da sind zwar die Formeln und Schlagworte oft wichtiger als die Inhalte. Doch schließlich geht es vor allem darum, dass Berlin auch gut klingt, gut aussieht und einen Haufen Bedeutungen produziert. Manchmal glaubt man dann wirklich, die Stadt bestünde nur aus den Hackeschen Höfen und ihrer unmittelbaren Umgebung.

Ganz im Gegensatz dazu steht wiederum der sogenannte Berlin-Film. In diesem bevorzugt man die Perspektive von ganz unten, da dominieren Handkamera und Halbtotale, da geht es meist düster, abgründig und traurig zu, da werden am liebsten die Geschichten vom Scheitern oder Geschichten, die nach dem Scheitern kommen, erzählt.

Auch „Nachtgestalten“, der zweite Kinofilm des in Schwerin aufgewachsenen und mittlerweile in Potsdam lebenden Theater- und Filmregisseurs Andreas Dresen, scheint da zuerst keine Ausnahme zu machen. „Nachtgestalten“ spielt während einer sehr dunklen und sehr regenreichen Winternacht in einem Berlin, in das es keine Tourismusbroschürenschreiber verschlägt, an Orten, die – bis auf eine Plattenbausiedlung in Hellersdorf, den Flughafen Tegel (dessen Neonlicht hier ungut an das von Intensivstationen erinnert) und eine Kneipe am Oranienplatz – nicht genau zu lokalisieren sind.

Und er erzählt in mehreren Episoden die Erlebnisse und Geschichten von Leuten, die man gemeinhin zu den sogenannten Randexistenzen zählt, von Leuten, die den meisten von uns eigentlich tagtäglich über den Weg laufen, die aber zumindest in den Wahrnehmungen und Bildern des neuen Berlin überhaupt nicht vorkommen: die des Obdachlosenpärchens Hanna (Meriam Abbas) und Viktor (Dominique Horwitz), das auf der Suche nach einem erschwinglichem Hotelzimmer für eine Nacht ist; die des gestressten, nicht mehr ganz jungen Angestellten Peschke (Michael Gwisdek), der sich am Flughafen Tegel statt mit einer japanischen Geschäftspartnerin plötzlich mit dem kleinen Feliz (Ricardo Valentin) aus Angola konfrontiert sieht; und die von Jochen (Oliver Bäßler), dem tapsigen Landwirt aus einem kleinen Kaff in Brandenburg, der einmal was erleben will und der minderjährigen und heroinabhängigen Prostituierten Patty (Susanne Bormann) über den Weg läuft.

Es bleibt nicht aus, dass bei solchen Konstellationen die Ereignisse für alle Beteiligten kein Zuckerschlecken sind, dass sie auch in dieser Nacht mehr straucheln als einmal so richtig auf die Beine kommen. Peschke schlägt sich die ganze Nacht mit Feliz um die Ohren, zu allem Überfluss wird dabei auch sein Auto von einer Gruppe Straßenkids geklaut; Hanna und Viktor werden in mehreren Hotels abgewiesen, landen auf einer Polizeistation und streiten und prügeln sich schließlich bei strömendem Regen auf einer Brücke; und auch Jochen muss in einem Stundenhotel und bei Freunden von Patty erfahren, dass Straßenstrich, Junkieszene und Romantik nicht zusammengehen. Da fehlen dann natürlich auch keine Hellersdorfer Neonazis, die den kleinen Angolaner kritisch im Aufzug beäugen, oder ein vorbeifahrender Bus mit der Aufschrift „Wohlstand ist machbar, Dresdner Bank“.

Doch es ist nun nicht so, dass „Nachtgestalten“ von sozialkritischem Pathos dominiert würde, dass Dresen hier mit erhobenem Zeigefinger auf das Elend der Welt im Allgemeinen und von Berlin jenseits der Hackeschen Höfe im Besonderen weisen würde.

Vielmehr beeindruckt „Nachtgestalten“ durch die realistische Ambivalenz von Figuren wie beispielsweise Peschke, der sich immer wieder als „Idioten“ geißelt, der nichts anderes zu tun hat, „als Negerbengels durch die Stadt zu fahren“: Der hin- und hergerissen ist zwischen der eigenen Hilfsbereitschaft und seinen rassistischen Vorurteilen, die er weniger reflektiert als das eigene Loser- und Lonertum.

Bei allem Realismus, bei aller allein beim Drehen geschaffenen Authentizität – beispielsweise ist die Bestürzung des Landmenschen Jochen beim Anblick eines kargen Stundenhotelzimmerchens original die Bestürzung des Schauspielers Oliver Bäßler, der bei laufender Kamera zum ersten Mal diesen Drehort zu Gesicht bekam – hat „Nachtgestalten“ auch etwas seltsam Leichtes.

Was an seiner Reigenhaftigkeit liegen mag, die an Robert Altmans „Short Cuts“ oder Jim Jarmuschs Film „Night On Earth“ erinnert und daran, dass die Geschichten durch einen bevorstehenden Berlinbesuch des Papstes genauso gebündelt werden wie durch eine ganze Reihe von Nebenfiguren (eine Gruppe Straßenkids, einen Penner, einen Taxifahrer, einen Polizisten), die immer wieder die Wege der Helden kreuzen.

Was aber auch von den von Dresen immer wieder eingestreuten komischen Momente herrühren mag : Da bekommt eine Punkerin ihren Doppelkorn und ihre Schokolade von einer Imbissverkäuferin mit den Worten „Hier, dein Abendbrot“ hingestellt, da versucht Peschke die Kids, die sein Auto gestohlen haben, über sein eigenes Autotelefon zu stellen, wird dann aber von ihnen noch gezwungen, den Zahlencode für Radio und Kassettenrekorder durchzugeben. Und da ist auch der von Horst Krause gespielte Taxifahrer ein richtig humoriger Berliner Wonneproppen.

Darüber hinaus ist es reizvoll zu sehen, wie sich die Figuren immer wieder aufrappeln und hartnäckig und getrieben an ihren Traum vom kleinen Glück in dieser einen Nacht arbeiten. Dresen und seinen durchweg hervorragenden Darstellern gelingt es dabei gut, die Figuren von ihrer Zuschreibung als „Randexistenzen“ zu befreien. Von Szene zu Szene bekommen sie mehr Persönlichkeit, irgendwann wandern sie nicht mehr als Junkies, Modernisierungsverlierer oder Obdachlose durch die Nacht, sondern als Menschen mit einer eigenen Geschichte und einer eigenen Moral.

An Berlin verschwendet man schließlich beim Zusehen auch keinen Gedanken mehr, höchstens, dass das, was sich um die Mitte, und sei es die neue, gruppiert, viel massiger ist als die Mitte selbst. Und auch Dresen hat in einem Interview gesagt, er habe mit dem Film weniger ein Hauptstadtporträt von unten machen wollen als vielmehr „ein wenig Hoffnung vermitteln“.

Stellvertretend dafür lieben sich am nächsten Morgen auch Hanna und Viktor in dem schließlich doch noch gefundenen Hotelzimmer – trotz Baulärm und Klopfen der Zimmervermieterin. Das ist dann richtig poetisch, und da können auch die moderne Gesellschaft und die Schalensitze im Olympiastadion noch ein wenig warten.

„Nachtgestalten“: Buch und Regie: Andreas Dresen. Kamera: Andreas Höfer. Mit Michael Gwisdek, Dominique Horwitz, Susanne Bormann, Meriam Abbas u. a., Deutschland 1999, 104 Min.