Ideologiefreier Machtkampf

In Indien hat der Wahlkampf begonnen. Doch noch hat keine Partei ein Programm veröffentlicht. Zuvor müssen Bündnisse geschlossen werden  ■   Aus Delhi Bernard Imhasly

Vier Monate nach dem Sturz der letzten Regierung beginnt in Indien endlich der Wahlkampf. Es wird weitere zwei Monate dauern, bis die neue Regierung im Amt ist. Die lange Wartezeit hat den Parteien und Kandidaten Zeit gegeben, ihre Kassen für den Wahlkampf zu füllen. Dessen häufige Wiederkehr – drei Wahlen in drei Jahren – macht es selbst gut gestellten Politikern schwer, die hohen Kosten aufzubringen.

Die Zersplitterung der Parteienlandschaft und das Mehrheitswahlrecht erlauben bei diesen Wahlen nur noch Sitzgewinne, wenn Wahlabsprachen getroffen werden. Bisher wichtige Parteiideologien wie Sozialismus, Nationalismus oder Säkularismus, mit deren Hilfe sich bisher die Parteien voneinander abgrenzten, werden dadurch an Bedeutung verlieren. Drei Wochen vor der Öffnung des ersten Wahllokals hat noch keine Partei ihr Programm veröffentlicht. Deren Versprechen werden ohnehin rasch zur Makulatur, und in Bereichen wie Wirtschaft und Verteidigung hat die Macht des Realen ideologische Unterschiede weitgehend eingeebnet.

Bisher ist die hindu-nationalistische BJP die am stärksten umworbene Partei. Der siegreiche Abschluss des jüngsten Kaschmir-Konflikts hat ihre Stellung gestärkt, und sie hofft, damit Stimmen zu gewinnen. Es gelang der BJP nicht nur, zwölf ihrer dreizehn Koalitionspartner bei der Stange zu halten, sie sah sich plötzlich umdrängt von Gruppierungen, die unbedingt unter ihrer Fahne kandidieren wollen. Dazu gehört neben kleinen Regionalparteien ausgerechnet der Janata Dal, dessen Anti-BJP-Position bisher das identitätsstiftende Merkmal der Partei war. Für die BJP könnte dies allerdings ein vergiftetes Geschenk werden. Denn der neue Partner verband sich sogleich mit zwei Parteien in der bisherigen Koalition – Samata und Lok Shakti, die früher ebenfalls dem Janata Dal angehörten. Gemeinsam feierten sie die Neuerstehung des Dal und ordneten sich innerhalb der BJP-Allianz als Gegengewicht zu den nationalistisch-hinduistischen Tendenzen ihres Seniorpartners ein. Die zweiten Gewinner im Gerangel um Kandidatenlisten sind die Regionalparteien. In allen großen Bundesstaaten haben sie in den letzten Jahren von der wachsenden Parteienvielfalt profitiert. Sie erlaubt es ihnen, beim Machtpoker in Delhi mit ein paar wenigen Sitzen eine gewichtige Rolle zu spielen. Selbst die BJP ist gezwungen, neben ihren bisherigen Partnern andere Regionalparteien zu Sitzabsprachen einzuladen.

Die einzige Partei, die sich weiterhin als ideologische Alternative zur BJP anbietet und Absprachen mit Regionalparteien ablehnt, ist der Kongress. Er tut dies, um das Vertrauen der Muslime und Kastenlosen zurückzugewinnen. Doch selbst beim Erzfeind der BJP beginnen die ideologischen Mauern zu bröckeln. Im Frühjahr pries Parteipräsidentin Sonia Gandhi den Hinduismus als die Religion, die Säkularismus – die Toleranz gegenüber anderen Glaubensformen – erst garantiere. Und bei der Kandidatenauslese fanden Leute Gnade, die sich früher bei anderen Parteien als „Muslim-Fresser“ hervorgetan haben. Auch ihre Absicht, ohne Listenverbindungen in den Wahlkampf zu ziehen, musste Sonia Gandhi fallenlassen. In Tamil Nadu besteht eine Absprache mit der AIADMK unter J. Jayalalitha, gegen die zahlreiche Korruptionsklagen laufen. Ausgerechnet Manmohan Singh, der wegen seiner Unbestechlichkeit geachtete ehemalige Finanzminister, musste sich mit ihr an den Tisch setzen, um eine Aufteilung der Sitze auszuhandeln.

Wenn im Kampf um die Macht die politische Agenda wegfällt, werden Persönlichkeiten zu entscheidenden Faktoren. Die BJP hat mit dem amtierenden Premierminister Atal Behari Vajpayee den weitaus populärsten Politiker des Landes, der die Kaschmir-Krise mit militärischer Entschlossenheit und diplomatischer Zurückhaltung erfolgreich beendet hat. Die Kongress-Partei wirft ihm dennoch Vertrauensseligkeit gegenüber Pakistan sowie die Gefährdung der nationalen Sicherheit vor.

Das Herausstellen inhaltlicher Defizite beim Gegner soll auchverhindern, dass Sonia Gandhi allzusehr im Vordergrund steht; sie würde damit nur wenig vorteilhafte Vergleiche mit Vajpayee provozieren. Dennoch will der Kongress seine Chefin nicht verstecken. Die Parteiränge haben sich hinter ihr geschlossen, und die Partei hofft, dass Gandhis italienische Herkunft beim Wähler weniger ins Gewicht fallen wird als ihr Rang im Stammbaum der Dynastie von Nehru und Indira Gandhi.